Eine Reise zu den heiligen Bergen der Welt

Geschichte der Berge

In ausserchristlichen Kulturen haust auf manchen Bergen das Göttliche, das Christentum begnügt sich mit Gipfelkreuzen: Ein Buch behandelt die Spiritualität rund um die Berge.

Vom Wohnquartier in Burgdorf, wo der Historiker Jon Mathieu lebt, sind an diesem klaren Spätwinternachmittag am südlichen Horizont die Berner Alpen mit der mythischen Trias Eiger-Mönch-Jungfrau zu sehen. Ganz passend zum Thema: Mathieu hat das neu erschienene Buch «Mount Sacred» geschrieben, es trägt den Untertitel «Eine kurze Globalgeschichte der heiligen Berge seit 1500».

Mathieu ist emeritierter Titularprofessor der Universität Luzern, sein Forschungsschwerpunkt die Geschichte der Berge. Der Berg, der seinem neuesten Buch den Titel gibt, ist erfunden; er steht «als Chiffre für zahlreiche Berge rund um den Erdball, denen Heiligkeit zugesprochen wurde oder in der Gegenwart zugesprochen wird», wie der Verfasser im Vorwort erklärt.

Wissenschaft und Glaube

Wer das Buch liest, erfährt, dass heilige Berge ausschliesslich in nichtchristlichen Kulturen etwa in Tibet, China oder Korea vorkommen, im engeren Sinn von sakralen Stätten, die mit göttlichen Kräften aufgeladen sind und religiös verehrt werden. Solche Berge gibt es im Christentum nicht. «Dieses ist in seinem Wesen naturfern und betrachtet keine Stätten in der Natur als heilig – nicht zuletzt aus der Befürchtung heraus, dass die Gläubigen die Natur statt deren Schöpfer anbeten könnten», sagt Jon Mathieu.

Die Verknüpfung von Naturerfahrung mit religiöser Reflexion kam in Europa erst mit dem Aufblühen der Wissenschaften ab dem 16. Jahrhundert auf.
Jon Mathieu, Historiker

Und doch kennt man auch im Christentum eine fast heilige Ehrfurcht vor der Bergwelt, spürt etwas von der Erhabenheit und «göttlichen» Weltentrücktheit hoher Schneegipfel. Diese Verknüpfung von Naturerfahrung mit religiöser Reflexion sei in Europa erst mit dem Aufblühen der Wissenschaften ab dem 16. Jahrhundert aufgekommen, erklärt Mathieu. In seinem Buch beleuchtet er in diesem Zusammenhang das Wirken des Zürcher Arztes und Naturforschers Johann Jakob Scheuchzer (1672–1733), der späteren Gebirgs- und Naturforschern wie Albrecht von Haller, Horace-Benedict de Sassure oder Alexander von Humboldt pionierhaft voranging.

«Seine grenzenlos anmutende Wissbegier war auch religiös motiviert», schreibt Jon Mathieu. Durch die Erforschung der Bergwunder wollte Scheuchzer Gott als deren Erschaffer preisen und andere zum Gotteslob ermuntern. Daraus habe sich eine Art Alternativtheologie entwickelt, die sich Gott nicht biblisch-heilsgeschichtlich, sondern im «heiligen Buch der Natur» näherte, führt der Historiker aus.

Das Kreuz als Gipfelstürmer

Parallel dazu entstand im Zuge der Gegenreformation eine katholische Kreuzlandschaft, die sich zuerst auf bewirtschaftete Alpenregionen beschränkte, schliesslich aber, im Zuge der Romantik und des touristischen Alpinismus, die Gipfel eroberte: So wurde das Heilige auch in den Bergen der Christenheit sicht- und greifbar. Nach dem Ersten Weltkrieg gerieten die Gipfelkreuze jedoch zunehmend in die Kritik. Diese ist bis heute nicht verstummt.

Ein weltweit bekanntes Kuriosum behandelt Jon Mathieu im Kapitel «Sechs Grossväter und andere amerikanische Berge»: Hier ist unter anderem vom Monument auf Mount Rushmore die Rede, das die gigantischen, in die Felsflanke gesprengten Köpfe von vier berühmten US-Präsidenten zeigt. Dieses aus einem religiös unterfütterten amerikanischen Sendungsbewusstsein heraus entstandene Denkmal inspirierte Initianten vom indigenen Volk der Lakota zu einem eigenen Auftritt: In den Black Hills soll ein Monument für den Indianerführer Crazy Horse entstehen. Dessen Gesicht ragt bereits riesig aus dem Fels, doch bis zur Fertigstellung des Denkmals dürften noch Generationen vergehen.

Jon Mathieu: Mount Sacred. Eine kurze Globalgeschichte der heiligen Berge seit 1500. Böhlau Verlag, 2023.