Attraktiv und doch nicht so begehrt: der Pfarrberuf

Pfarrberuf

Immer weniger Studierende, weniger Ordinierte: In Kirchen das Evangelium zu verkünden, scheint zunehmend unattraktiv. Doch Ausbildende und Pfarrschaft sehen grosses Potenzial.

76 Bachelor-Studierende waren im Fach Theologie an der Uni Bern im Herbstsemester 2015 eingeschrieben. Für dasselbe Jahr verzeichnen die evangelisch-reformierten Kirchen Bern-Jura-Solothurn (Refbejuso) 21 Ordinationen, also Ernennungen zur Pfarrerin, zum Pfarrer durch die Kirche. Im vergangenen Jahr meldet die Fakultät nur noch 39 Bachelor-Studierende, Refbejuso zehn Ordinationen.

Auch wenn die Zahlen bloss eine Momentaufnahme sind: Der Rückgang bei den Studierenden wie auch beim Berufsabschluss zur Pfarrperson ist nicht bestritten. «Das abnehmende Interesse an der Theologie und am Pfarrberuf beschäftigt die Pfarrschaft sehr, mehr als alles andere», sagt gar Kathrin Brodbeck. Die 44-Jährige ist Pfarrerin in Moosseedorf und Präsidentin des Pfarrvereins Bern-Jura-Solothurn.

Der Druck ist gut

Neben dem allgemeinen Bedeutungsverlust der Kirche ortet sie unter anderem einen fehlenden Zugang zu jungen Leuten. Früher sei Jugendarbeit oft von der Kirche übernommen worden. «Jetzt ist das oftmals Gemeindesache. So entfällt für die Kirche eine wichtige Kontaktmöglichkeit.»

Doch die Pfarrschaft habe durchaus Chancen und der Beruf viel Positives, bilanziert Brodbeck. «Der Druck zu Reflexion und Selbstkritik ist gut. Und unsere Vernetzung in den Gemeinden nach wie vor ein Gewinn.»

Ich erlebe auch eine neue Qualität, weil dieses Amt nicht mehr so patriarchal und von unwidersprochenen Selbstverständlichkeiten geprägt ist.
Kathrin Brodbeck, Pfarrerin und Präsidentin Pfarrverein Bern-Jura-Solothurn

So sei es gerade jetzt sehr spannend, Pfarrerin oder Pfarrer zu sein. «Und ich erlebe auch eine neue Qualität, weil dieses Amt nicht mehr so patriarchal und von unwidersprochenen Selbstverständlichkeiten geprägt ist.»

Pfarrerinnen und Pfarrer seien nah bei den Menschen in entscheidenden Lebensmomenten, sagt Kathrin Brodbeck. «Das ist wahnsinnig spannend, schön und sinnhaft.» Pfarrpersonen würden nach wie vor gebraucht.

Und auch wenn der rasche Wandel zurzeit anstrengend sei: «Von Zeit zu Zeit muss ich mir bewusst machen, dass das Reich Gottes nicht kleiner wird, wenn die Institution Kirche kleiner wird. Das erleichtert mich.»

Erfüllende Vielfalt

Begeistert von ihrer Profession ist auch die 30-jährige Bieler Pfarrerin Rahel Balmer. «Manchmal sage ich, ich sei Lehrerin, Psychologin, Kulturbeauftragte, Texterin, Content Creator, Dramaturgin, Managerin und Religionswissenschaftlerin.» Sie habe ein Eintrittsbillett in viele Wohnungen, sei Hüterin vieler Geheimnisse und erlebe «heilige Momente mit Babys und Sterbenden».

Die reformierte Kirche erlebe ich als viel offener und lebensbejahender, als es verbreitete Vorurteile behaupten.
Rahel Balmer, Pfarrerin in Biel

Auch wenn sie die hohe «Produktionsfrequenz» als anstrengend empfinde, seien ihre Aufgaben äusserst attraktiv. Auch dank viel Freiraum für kritische Reflexion: «Die reformierte Kirche erlebe ich als viel offener und lebensbejahender, als es verbreitete Vorurteile behaupten.»

Eine Veränderung mit Chancen sieht die junge Pfarrerin etwa im Bereich der Interreligiosität. Viele Menschen würden sich nicht mehr zu einer Religion bekennen, sich aber für Religionen und Spiritualität interessieren.

Und Kirche müsse ihre Nähe zu den Menschen behalten – etwa durch den Einbezug von Laien –, sonst werde sie unglaubwürdig, findet Rahel Balmer.

Weiterbildung international

So sieht es auch Andreas Köhler-Andereggen, Leiter der Koordinationsstelle für praktikumsbezogene theologische Ausbildung (Kopta) und des Lernvikariats an der Uni Bern. Mit Menschen vor Ort Kirche neu denken und entwickeln: Das bringe die Chance, «Formen des Feierns und Begegnens und der Gottsuche zu entdecken, auch Care-Tätigkeiten zu leben».

Und zwar in unterschiedlichsten Formen. Dieses Themenfeld ist auch Teil einer internationalen Tagung im Juni, die Köhler mitleitet.