Recherche 31. August 2020, von Delf Bucher, Cornelia Krause

Ein Land verzweifelt an seinem System

Politik

Die Christen Libanons hoffen nach der Explosion in Beirut auf politische Reformen. Aber der religiösen Proporz zwischen Christen, Sunniten und Schiiten blockiert das System.

Habib Badr hatte den Schreibtisch verlassen, da spürte er die unglaublich starke Explosion. «Erst dachte ich, es handle sich um ein Erdbeben, aber so eine Kraft hatte ich noch nie erlebt.» Sekundenbruchteile später war der Schreibtisch übersät mit Splittern der geborstenen Fensterscheiben. «Nur knapp blieb ich unverletzt», sagt der 69-jährige Pfarrer der National Evangelical Church in Beirut am Telefon.  

Die Explosion am 4. August im Hafenviertel der Stadt, ausgelöst durch unsachgemäss gelagerte explosive Chemikalien, hat grosse Teile Beiruts zerstört, mindestens 180 Todesopfer und 6000 Verletzte gefordert. Die Mitglieder von Badrs Gemeinde trugen meist leichte Blessuren davon, doch der Sachschaden macht der protestantischen Gemeinde, knapp drei Kilometer vom Ort des Unglücks entfernt, zu schaffen. Viele Kirchenfenster aus dem 19. Jahrhundert sind zerborsten, die Detonation schleuderte die Eingangstüren auf die Kirchenbänke. 

Tage später waren weder Politiker am Hafen noch staatliche Aufräumtrupps präsent. Eigeninitiative war gefragt. In Badrs Kirche packten Jugendliche an. «Die Katastrophe brachte das Gute in vielen Menschen hervor», sagt der Pfarrer.

Patriarch erhöht den Druck

Die Vertreter der politischen Elite schoben sich derweil gegenseitig die Schuld zu, wer es versäumt habe, die Chemikalien aus dem Hafen zu entfernen. Die Explosion hat die Protestbewegung gegen die Führung im Land wieder angefacht. 

Nach dem Rücktritt der Regierung, die nunmehr geschäftsführend im Amt ist, sehen viele eine Chance auf Veränderung. Der katholische Theologe Fadi Daou steht der Adyan-Stiftung vor, die sich für Solidarität innerhalb der zerklüfteten Religionslandschaft von 18 Glau-
bensgruppen einsetzt. Daou hofft, dass unabhängige Experten die Regierung ersetzen. «Mit besonderen Vollmachten ausgestattet, könnten sie ein neues Wahlgesetz ausarbeiten und in einem Jahr Neuwahlen ausschreiben.» So skizziert der Theologe seine Vision. 

Das Wahlgesetz zielt auf das Proporzsystem der parlamentarischen Demokratie ab, das die Politik seit Jahrzehnten blockiert. Das geltende System sorgt dafür, dass wichtige Positionen im Staat strikt unter den verschiedenen Religionsgruppen verteilt werden. Der Staatspräsident ist immer ein maronitischer Christ, der Premierminister ein Sunnit, ein Schiit muss das Parlament präsidieren. 

An eine schnelle Reform des Systems glauben weder Pfarrer Badr noch der Direktor der armenisch-
protestantischen Hochschule, Paul Haidostian. Eine Abschaffung des konfessionellen Proporzes wäre für Badr zwar langfristig das Ziel, «aber man kann dem Land eine Zivildemokratie nicht einfach überstülpen, eine Entwicklung dahin braucht Zeit und Bildung». Er plädiert zunächst für kleinere Schritte in Richtung Reform.

Haidostian konstatiert, dass sich die Frustration der Libanesen gegen alle politischen Parteien inklusive der militärisch starken Hisbollah richtet. Während früher die Hälfte der Bevölkerung streng den religi-ösen Organisationen Gefolgschaft leistete, seien es inzwischen vielleicht nur noch ein Viertel der Libanesen. «Aber trotz des Loyalitätsverlusts kristallisiert sich noch nicht eine politische Plattform mit einer klaren Orientierung heraus», sagt der Universitätsdirektor. 

Anders beurteilt das der maronitisch-katholische Daou. Er sieht Chancen, dass dank dem maronitischen Patriarchen Béchara Boutros Raï das Proporzsystem unter Druck gerät. Raï fordert strikte aussen-politische Neutralität des Libanon und die Nicht-Einmischung ausländischer Akteure. Das ist auch eine klare Ansage gegenüber dem ehe-
ma-ligen maronitischen Warlord und heutigen Präsidenten Michel Aoun, der mit der Hizbollah paktiert. Nur wenn die schiitische Miliz als stärkste militärische Kraft ausgeschaltet werde, seien echte Reformen möglich, erklärt Daou.

Das Ausland muss helfen

In einem sind sich Haidostian und Daou einig: Ohne Hilfe von aussen wird Libanon zu einem «failing state». Daou erinnert an die prekäre Versorgungslage breiter Schichten der Bevölkerung, die bereits aufgrund von Wirtschaftskrise und Pandemie vor der Explosion kritisch war: «Schätzungen gehen davon aus, dass alleine 15 Milliarden Dollar für den Aufbau Beiruts benötigt werden.» Bisher seien erst 293 Millionen Dollar internationale Hilfsgelder versprochen worden.  

Die Zurückhaltung ist nicht verwunderlich. «Jeder weiss: Libanon ist eine zerrüttete Gesellschaft ohne funktionierenden Staat», so Daou. Und die Kleptomanie der Politiker weist auch Transparency International aus, die den Zedernstaat auf Rang 137 von 198 Nationen ihres Korruptionsindexes führt. 

Dennoch wäre eine Unterstützung auch im Interesse Europas, denn Nichtstun könnte sich rächen. Neben 1,5 Millionen syrischen und 300 000 palästinensischen Flüchtlingen sitzen auch Millionen bedrängter Libanesen auf gepackten Koffern, um mit einer Fahrt übers Mittelmeer ihr Glück in Europa zu suchen.