Die Vertreter der politischen Elite schoben sich derweil gegenseitig die Schuld zu, wer es versäumt habe, die Chemikalien aus dem Hafen zu entfernen. Die Explosion hat die Protestbewegung gegen die Führung im Land wieder angefacht.
Nach dem Rücktritt der Regierung, die nunmehr geschäftsführend im Amt ist, sehen viele eine Chance auf Veränderung. Der katholische Theologe Fadi Daou steht der Adyan-Stiftung vor, die sich für Solidarität innerhalb der zerklüfteten Religionslandschaft von 18 Glau-
bensgruppen einsetzt. Daou hofft, dass unabhängige Experten die Regierung ersetzen. «Mit besonderen Vollmachten ausgestattet, könnten sie ein neues Wahlgesetz ausarbeiten und in einem Jahr Neuwahlen ausschreiben.» So skizziert der Theologe seine Vision.
Das Wahlgesetz zielt auf das Proporzsystem der parlamentarischen Demokratie ab, das die Politik seit Jahrzehnten blockiert. Das geltende System sorgt dafür, dass wichtige Positionen im Staat strikt unter den verschiedenen Religionsgruppen verteilt werden. Der Staatspräsident ist immer ein maronitischer Christ, der Premierminister ein Sunnit, ein Schiit muss das Parlament präsidieren.
An eine schnelle Reform des Systems glauben weder Pfarrer Badr noch der Direktor der armenisch-
protestantischen Hochschule, Paul Haidostian. Eine Abschaffung des konfessionellen Proporzes wäre für Badr zwar langfristig das Ziel, «aber man kann dem Land eine Zivildemokratie nicht einfach überstülpen, eine Entwicklung dahin braucht Zeit und Bildung». Er plädiert zunächst für kleinere Schritte in Richtung Reform.
Haidostian konstatiert, dass sich die Frustration der Libanesen gegen alle politischen Parteien inklusive der militärisch starken Hisbollah richtet. Während früher die Hälfte der Bevölkerung streng den religi-ösen Organisationen Gefolgschaft leistete, seien es inzwischen vielleicht nur noch ein Viertel der Libanesen. «Aber trotz des Loyalitätsverlusts kristallisiert sich noch nicht eine politische Plattform mit einer klaren Orientierung heraus», sagt der Universitätsdirektor.
Anders beurteilt das der maronitisch-katholische Daou. Er sieht Chancen, dass dank dem maronitischen Patriarchen Béchara Boutros Raï das Proporzsystem unter Druck gerät. Raï fordert strikte aussen-politische Neutralität des Libanon und die Nicht-Einmischung ausländischer Akteure. Das ist auch eine klare Ansage gegenüber dem ehe-
ma-ligen maronitischen Warlord und heutigen Präsidenten Michel Aoun, der mit der Hizbollah paktiert. Nur wenn die schiitische Miliz als stärkste militärische Kraft ausgeschaltet werde, seien echte Reformen möglich, erklärt Daou.