Recherche 11. August 2020, von Nicola Mohler

«Ich habe Angst, dass die jungen Menschen nun wegziehen»

Libanon

Die Pfarrerin Najla Kassab lebt in Beirut und spricht mit «reformiert.» über die Situation und ihre Hoffnung für die Zukunft nach der gewaltigen Explosion. 

Wie geht es Ihnen?

Najla Kassab: Ich erhole mich vom Schock, wie alle anderen Menschen hier auch. Eine Woche nach der Explosion wissen wir zwar, ob Freunde und Verwandte überlebt haben – auch wenn Menschen immer noch als vermisst gelten. Aber psychisch ist es schwierig. Wir müssen lernen, wieder zu funktionieren. Es ist einfach, ein Fenster oder eine Tür zu reparieren, aber das Trauma, das viele von uns gerade erleben, ist schwieriger aufzuarbeiten.

Wo waren Sie, als am 4. August um 18 Uhr Ortszeit 2750 Tonnen Ammoniumnitrat im Hafen von Beirut explodierten?

Ich lebe in einem Vorort 13 Kilometer nördlich von Beirut und war zu Hause. Doch die Druckwelle war bis zu uns zu spüren. Die Fenster sind zerschlagen, Türen aus dem Rahmen geschleudert. Meine Familie blieb unverletzt. Eine meiner Töchter aber arbeitet in der Nähe vom Hafen. Sie war zum Zeitpunkt im Büro. Die Zeit bis zu ihrem Anruf, dass es ihr gut geht, waren für mich und meinen Mann die Hölle.

Der Libanon war über die letzten Jahre stark gerüttelt: Kriege, Flüchtlingswellen, Corona-Krise, Wirtschaftskrise und nun auch noch diese Explosion mit einer massiven Zerstörung, über 100 Toten, Tausenden Verletzten und 300'000 Menschen, die kein Dach mehr über dem Kopf haben. Haben Sie nie daran gedacht, das Land zu verlassen?

Ich habe den Bürgerkrieg erlebt und alle anderen Krisen dieses Landes. Der Krieg hat uns Libanesen gelernt, weiterzumachen. Aber ich muss gestehen, die letzten Monate erlebte ich als schwieriger als jeden vorhergegangenen Krieg. Wir konnten Angestellten nur noch die Hälfte ihres Lohns bezahlen, und jetzt haben sie durch die Explosion auch noch ihr Zuhause verloren. Irgendwann wird alles zu viel. Aber nein, ich werde nicht wegziehen. Ich und meine Familie kamen 1990 aus dem Ausland zurück. Wir wollen hier im Libanon bleiben, weil wir glauben, wir können hier etwas verändern: Die protestantische Kirche führt sieben Schulen im Libanon, wo Kinder aller Religionen und Ethnien ihre Ausbildung abschliessen. Dies ist ein Fundament für die Zukunft unseres Landes. Aber ich habe grosse Angst, dass die jungen Menschen wegziehen, die unser Land verändern könnten. Viele Libanesen sind Doppelbürger und sehr gut ausgebildet. Es ist ihnen also ein Einfaches, ins Ausland zu ziehen. Die nächsten Monate werden für den Libanon wegweisend sein: Entweder schaffen wir eine Neugeburt unseres Landes, oder wir enden in der absoluten Zerstörung.

Der libanesische Ministerpräsident ist am Montagabend zurückgetreten. Reicht dieser Schritt für eine Veränderung?

Nein, Hasan Diab beugt sich dem Druck der Strasse. Und wenn er weg ist, heisst das nicht, dass jetzt alles besser wird. Demonstrierende fordern seit 2019, das Parlament und das Kabinett auszuwechseln. Ich unterstütze diese Forderung, fürchte aber, dass das Auswechseln der Personen nicht ausreicht. Wir brauchen eine andere Mentalität, was die Arbeitsweise der Politiker und Politikerinnen angeht.

Das Proporzsystem des Landes legt die Machtbereiche klar fest: Der Präsident muss maronitischer Christ ein, der Regierungschef sunnitischer Muslim, der Parlamentspräsident ein Schiit. Ist dieses System überhaupt noch zulässig?

Dieses System funktioniert in meinen Augen für unser Land. Es ist nicht das Problem. Das Problem liegt bei den Leuten, die wir wählen. Wir hatten grosse Hoffnung in die jüngste Regierung. Das sind sehr gut ausgebildete Menschen. Aber sie sollten politisieren, ohne dass die Interessen ihrer religiösen Gruppierungen und Anführer im Zentrum stehen. Sie sollten Entscheidungen treffen, die für jeden Libanesen und jede Libanesin gut sind. Die Korruption muss verschwinden, und die Politiker müssen für ihr Handeln zur Rechenschaft gezwungen werden.

Gemäss der Nachrichtenagentur Reuters wurde die libanesische Regierung vor den verheerenden Folgen einer Explosion im Hafen von Beirut bereits im Juli gewarnt. Die Chemikalien hatten der Regierung zufolge sechs Jahre lang ungesichert im Hafen gelagert.

Gestern wurde entschieden, dass ein eigens für die Vorfälle eingerichtetes Gericht den Vorfall aufarbeiten soll. Es war unprofessionell, dass dieses Material seit 2013 im Hafen gelagert worden ist. Die Gründe für die Explosion kennen wir noch nicht. Aber die involvierten Politiker, Clanführer und Oligarchen müssen zur Verantwortung gezogen werden. Die Explosion hat bewirkt, dass jetzt die Welt plötzlich auf den Libanon schaut. Wir hoffen, dass uns die internationale Gemeinschaft hilft. Die jungen Libanesen und Libanesinnen könnten die Führungskräfte von morgen sein. Ich habe grosse Hoffnung in sie. Schauen Sie heute auf die Strassen in Beirut: Es sind die jungen Menschen, die helfen aufzuräumen, nicht die Regierung. Korruption und Verstrickungen aber verhindern, dass die jungen Leute wichtige Positionen einnehmen können.

Sie sind Pastorin. Wie sieht Ihre Arbeit derzeit aus?

Unsere Kirche besitzt ein Wohnhaus, wo wir jetzt Familien untergebracht haben, die ihr Haus verloren haben. Junge Kirchenmitglieder verteilen in den verwüsteten Stadtteilen Nahrungsmittel. Heute morgen traf ich mich mit anderen Pastoren. Wir müssen uns um die Leute mit Trauma kümmern. Dann sammeln wir Spenden für Menschen, die ihr Zuhause verloren haben. Dabei kümmern wir uns nicht nur um unsere Mitglieder, sondern jeden Menschen, der Hilfe braucht. Ich persönlich kümmere mich darum, uns mit anderen Organisationen, Kirchen und Moscheen zu vernetzen. Damit wir die Hilfe möglichst gut organisieren können. In einer Krise spielen Religionszugehörigkeit oder Klasse keine Rolle, die Würde jedes Individuums steht im Zentrum. Wir müssen nun schnell handeln, denn die Menschen erwachen aus der Schockstarre.

Najla Kassab

Najla Kassab

Die Libanesin ist Pastorin der Nationalen Evangelischen Kirche in Syrien und Libanon und seit Juli 2017 Präsidentin der Weltgemeinschaft Reformierter Kirchen (WGRK). Sie hat in Princeton studiert und kehrte 1990 mit ihrer Familie nach Beirut zurück. 1993 erhielt sie als erste Frau Libanons von der Nationalen Evangelischen Synode in Syrien und Libanon eine Predigterlaubnis. Da es zu diesem Zeitpunkt jedoch noch keine Frauenordination gab, durfte sie Amtshandlungen wie Taufen, Trauungen und Begräbnisse noch nicht durchführen.