Der Tod kommt nicht mehr von selbst

Sterben

Mehr als jeder zweite Todesfall in der Schweiz tritt durch eigene oder fremde Entscheide ein. Darüber müsse man öffentlich und ernsthaft sprechen, fordern Theol

Die Vorstellung, dass der Tod natürlich kommt und der Mensch ihn fraglos hinnimmt, scheint überholt. Neueste Unter­suchungen (im Swiss Medical Forum 2016, 896-898) zeigen: Bei 58,7 Prozent aller medizinisch begleiteten Todesfälle in der Schweiz sterben Menschen aufgrund vorher getroffener Entscheidungen. Dabei geht es für einmal nicht um den vieldiskutierten assistierten Suiziddurch Sterbehilfeorganisationen wie Exit, er betraf 2014 nur gerade 1.2 Prozent aller Todesfälle. Viel häufiger hingegen fällt der Entscheid zur sogenannten passiven Sterbehilfe, also zum Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen, welcher dann zum Tode führen kann.

Es wäre an der Zeit, über diese neue Situation öffentlich zu diskutieren, fordern der Arzt Roland Kunz und der Theo­loge Heinz Rüegger in einem Artikel in der «Neuen Zürcher Zeitung» (12. April2017). Denn rechtlich – spätestens mitEinfüh­rung des Erwachsenenschutzrechts 2013 – wird jedem Menschen ein Mass an Selbstbestimmung zum Lebensende zugestanden, das früher nicht üblich war.

NeueSituation. Der Grund für dieseneue Rechtslage liegt vor allem amriesigen Arsenal lebensverlängernder Massnahmen der heutigen Medizin. Was soll in welcher Situation eingesetzt oder unterlassen werden? Es besteht nichtnur die Freiheit, sondern geradezu ein Zwang, über den Einsatz oder das Unterlassen therapeutischer Massnahmen zu entscheiden. Und entscheiden soll nach dem Gesetz vor allem die betroffene Person – nicht der Arzt oder die Ärztin. Selbstbestimmung erstreckt sich auch auf die Art, wie jemand sterben möchte: durch Verzicht auf lebensverlängernde Massnahmen, durch Sterbefasten, oder durch assistierten Suizid?

Jede und jeder ist für die Art und denZeitpunkt des eigenen Todes – soweiter geplant werden kann – verantwortlich. Das ist eine neue, schwierige und moralisch heikle Situation. Die einen er­leben diese Verantwortung als Freiheit und feiern «das Recht auf den eigenenTod». Andere Menschen wird die Frage nach selbstbestimmtem Sterben masslos überfordern. Sie können sich zwar darum drücken, aber dann müssen eventuell Angehörige am Krankenbett für sie entscheiden. Das kann diese unter enormen Druck setzen. Auch Nichtentscheidung ist also ein Entscheid, denn: Der Tod kommt nicht mehr einfach von selbst, er wirduns auch nicht vom Schicksal oder vomHerrn über Leben und Tod zur rechtenZeit geschickt. Das eigene Sterben musszunehmend geplant werden und wirdGegenstand eigenen Entscheidens, ob uns das zusagt oder nicht.

«Viele denken beim Stichwort selbstbestimmten Sterbens sofort an das relativ seltene Phänomen der Suizidbeihilfe, wie es etwa von Exit praktiziert wird»,sagt Heinz Rüegger auf Nachfrage. Viel wichtiger sei aber, sich rechtzeitig mitdem eigenen Sterben auseinandersetzen. Dazu gehörten Fragen wie: Was ist mir wichtig? Wann fühle ich mich bereit zu sterben? Unter welchen Bedingungen wäre mir ein gut begleitetes Sterben lieber als ein medizinisch erzwungenes Weiterleben? Solche Fragen lassen sich im Gespräch mit Fachleuten oder Nahestehenden klären. Als Grundlage kann auch das Ausfüllen einer Patientenverfügung dienen.

«Ein öffentlicher Diskurs über dieseFrage wäre dringend nötig», sagt Heinz Rüegger. Er bedauert, dass Medien sichauf Sterbehilfeorganisationen fokussieren. Es fehlten kompetente Informationen über die Rahmenbedingungen heutigen Sterbens sowie eine entsprechende politische Debatte um Sterbehilfe.

NeueFrage. Und wie fragwürdig findet Heinz Rüegger als Theologe den Entscheid über das eigene Sterben? «Die Bibel kennt diese Fragestellung schlicht nicht.» Damals konnte man durch eigenes Entscheiden das Leben nicht verlängern. «Theologisch gesprochen gehört es zur uns von Gott ge­ge­benen Freiheit, dass wir durch wissen­schaft­liche Errungenschaften mit entscheiden können, wie lange wir leben und wann wir sterben wollen», sagt Rüegger. Mit dieser Freiheit sei gegeben, dass es hier um eigene Verantwortung geht, die Menschen in Respekt vor dem Leben und dem Schöpfer des Lebens auch ernsthaft wahrnehmen sollen. «Es ist zu billig, ja fast gotteslästerlich, einfach so zu tun, als wäre es die Aufgabe Gottes, dafür zu sorgen, dass wir zur rechten Zeit – nicht früher und nicht später – den Tod finden.»

Heinz Rüegger, 64

Der promovierte Theologe, Ethiker und Gerontologe ist seit 1999 am Institut Neumünster in Zollikerberg bei Zürich tätig. Seine Schwerpunkte sind ethische Fragen zu Altwerden und Sterben.