Recherche 23. August 2022, von Felix Reich

«Nicht die Heilung ist die Pointe»

Inklusion

Die Kirche beteiligt sich an der Aktion «Zukunft Inklusion». Kirchenratspräsident Michel Müller sagt, was er sich davon erhofft und warum die Heilungswunder eine Provokation sind.

Ist die reformierte Landeskirche eine inklusive Kirche? 

Michel Müller: Sie ist auf dem Weg dazu. Inklusion ist ein sehr weiter Begriff. Die Aktionstage fokussieren auf die Behinderung. In diesem Bereich sind wir seit vielen Jahren gut unterwegs. Auch in der Flüchtlingsarbeit, der Integration von Migrantinnen und Migranten engagiert sich die Kirche stark. Bei der Vielsprachigkeit hapert es vielleicht etwas. Eine speziell diverse Kirche sind wir Reformierten nicht. 

Wohin soll der Inklusionsweg der Kirche denn in Zukunft führen?

Lange schien es zu genügen, Menschen, die erschwerten Zugang zu kirchlichen Angeboten haben, zu unterstützen. Inklusion will aber viel mehr. Es geht um ein gegenseitiges Lernen. Die Behinderung des einen kann zu einer Bereicherung für die andere werden. 

Was bedeutet das konkret?

Wenn zum Beispiel jemand aus einer Konfirmationsklasse im Rollstuhl sitzt und dann die Kolleginnen und Kollegen auch einmal einen Parcours im Rollstuhl absolvieren, erkennen sie, wie stark der vermeintlich Schwache eigentlich ist. Unsere Alltagswelt orientiert sich am Mainstream und ist für die Mehrheit bequem eingerichtet. 

Wo hat die Kirche noch Baustellen? 

Wichtig ist zuerst einmal, dass wir immer wieder unsere eigene Komfortzone verlassen und die Perspektiven wechseln, indem wir die Rollen tauschen. In der Frage nach den Baustellen ist ein wacher Blick nötig: In welchen Bereichen Hindernisse beseitigt werden müssen, finden wir am besten im Gespräch mit Betroffenen heraus.

Vom Sportverein bis zu den Verkehrsbetrieben

Vom Grasshopper Club Zürich über die Verkehrsbetriebe Zürich bis zur Kirche beteiligen sich zahlreiche Organisationen an den Aktionstagen «Zukunft Inklusion», welche die Behindertenkonferenz Kanton Zürich und das kantonale Sozialamt ins Leben gerufen haben. Sie finden vom 27. August bis 10. September statt. Am 28. August wird um 10 Uhr im Grossmünster der Eröffnungsgottesdienst gefeiert – mit der Hora-Band, der Gehörlosengemeinde Turbenthal und einem Mimenchor. Pfarrer Christoph Sigrist gestaltet die Liturgie, zu Gast ist Regierungsrat Mario Fehr.

Inklusion braucht auch häufig Ressourcen. Verfügen die Kirchgemeinden über die nötigen Mittel?

Integration und Inklusion benötigen bauliche und personelle Ressourcen, das sieht man insbesondere im Schulwesen. In der Kirche ist es nicht anders. Deshalb hat die Landeskirche eine Inklusionsbeauftragte angestellt. Sie sensibilisiert in den gesamtkirchlichen Diensten für das Thema und berät und unterstützt die Kirchgemeinden.

In einem Interview mit «reformiert.» sagte der Experte für Behindertenrecht, Markus Schefer,spezielle Pfarrämter etwa für Gehörlose seien «im Grundsatz falsch». Was entgegnen Sie?

Wenn es darum ginge, Menschen irgendwo zu versorgen, damit sie ja nicht stören, hätte Markus Schefer recht. In Wahrheit handelt es sich aber um Empowerment-Pfarrämter. Sie unterstützen etwa Migrantinnen und Migranten, Gehörlose oder die LGBTIQ-Community. Diese Pfarrämter zeigen die blinden Flecken in der Kirche auf. Damit wollen sie letztlich nicht die Segregation, sondern den Zusammenhalt fördern.

Michel Müller (58)

Seit 2011 ist Michel Müller Präsident des Kirchenrats der reformierten Kirche des Kantons Zürich. Zuvor war er 17 Jahre lang Pfarrer in Thalwil. Von 1999 bis 2011 war Müller Mitglied der Synode, des Parlaments der reformierten Landeskirche. Er ist Mitglied des Synodalvereins und präsidierte im Jahr vor seiner Wahl in die Exekutive die Fraktion. Theologie hat Michel Müller in Basel studiert.

Welches Ziel verfolgt die Kirche mit der Teilnahme an den Aktionstagen zu den Behindertenrechten?

Wir wollen zur Sensibilisierung beitragen. Die Erfahrung, dass jemand nicht behindert ist, sondern behindert wird, scheint mir zentral. Ich lebe mit meinen Ressourcen, fühle mich lebenstüchtig, aber ich stosse an Grenzen, bin auf Hilfe oder Hilfsmittel angewiesen. Zudem ist es ein schönes inklusives Zeichen, dass die beiden Landeskirchen eine Initiative des Kantons unterstützen und mit Veranstaltungen bereichern.

Mit einer christlichen Botschaft?

Natürlich. Zu glauben, dass die Heilungsgeschichten im Neuen Testament davon erzählen, dass Jesus den Menschen ihre Behinderung weggenommen, sie wieder «normal» gemacht habe, ist ein Missverständnis. Vielmehr steckt dahinter eine Provokation. Was Jesus machte, können wir alle tun: Menschen in unsere Mitte nehmen. Die Pointe an der Geschichte vom Gelähmten auf der Bahre, dem seine Freunde über das Dach Zugang zu Jesus verschaffen müssen, weil so viele Leute den Weg versperren (Mk 2,4), ist nicht, dass er am Ende wieder gehen kann. Entscheidend ist, dass ihn Jesus in die Gemeinschaft aufnimmt, sich ihm zuwendet.

Entscheidend ist also nicht, dass der Blinde wieder sieht, sondern dass er gesehen wird?

Genau. Dass er mit all seinen Fähigkeiten erkannt wird. Der blinde Bartimäus schreit laut nach Jesus, obwohl ihn die Leute zum Schweigen bringen wollen (Mk 10,48). Jesus ruft dazu auf, Menschen nicht zu übersehen.