Der Zwingli-Versteher aus Nordamerika

Reformation

Bruce Gordon kennt Zürich und Zwingli. Aus Passion und von Berufs wegen. Ein Spaziergang mit dem Yale-Professor.

Wer «Bruce Gordon» und «Zwingli» in das Google-Suchfeld eingibt, landet gleich bei einem Video. Darin verteidigt der kanadische Historiker der renommierten Yale-University seine These, dass unter allen Reformatoren der faszinierendste der Zürcher Zwingli sei. Für die Moderatorin des Universitäts-TV ist der Reformator mit dem sperrigen Vornamen Huldrych nicht nur ein Zungenbrecher, sondern auch ein No-body. Ihre Rückfragen offenbaren: Klar kennen wir Luther und Calvin, wer aber ist Zwingli? 

Deshalb hat sich Bruce Gordon zum Ziel gesetzt, der Zwingli-Versteher von Nordamerika zu werden. Gordon hat bereits einen dicken Wälzer zur Schweizer Reformation und eine ebenso schwergewichtige Biografie über Calvin geschrieben. Nun hat er sich an den Schreibtisch gesetzt, um Zwingli ein Buch zu widmen, dessen kontrastreiche Lebensgeschichte ihn fasziniert: Wie der Reformator als Gegner des Soldwesens den Tod auf dem Schlachtfeld finden konnte, das sei doch die perfekte Story, wie für ein Drehbuch gemacht. Deshalb ist der Forscher nach Zürich gekommen, um den Zwingli-Film von Stefan Haupt anzuschauen, aber um vor allem an der prominent besetzten Reformationstagung, zu der die Universität einlud, ein Referat zu halten. 

Polemiker und Prophet

Im Treppenhaus der Theologischen Fakultät humpelt mir der Professor entgegen, streckt seinen silbrigen Gehstock in die Höhe und begrüsst mich mit den Worten: «Das habe ich einer Operation zu verdanken.»

Nein, auf keinen Fall wolle er auf den geschichtsträchtigen Zwingli-Rundgang verzichten. «Ich liebe das alte Zürich.» Schon oft ist Gordon während seiner vielen Forschungsaufenthalten in der Zwinglistadt herumspaziert, um in der geschichtsträchtigen Altstadt der Atmosphäre der Reformation nachzuspüren. 

Schon hebt Gordon seinen wissenschaftlichen Spazierstock, zeigt auf das «Haus zur Sul», Zwinglis Wohnstätte von 1519 bis 1525. Unser ganz eigener Zwingli-Film beginnt. «Da hat Zwingli oft bis in die Nacht hinein bei einem Funzellicht gesessen und Briefe geschrieben.» In seinen Briefen werde Zwingli als Person greifbar. In seinen Predigten dagegen zeige er sich als Polemiker und Prophet zugleich, der mit zuweilen ätzenden Worten sein Publikum gewinnt und andere wiederum abstösst. «Die einen liebten ihn, die andere hassten ihn», sagt Gordon. 

Anders als in seinen Predigten schlage Zwingli in den Briefen -einen milden Ton an. Die Texte umfassen liebevolle Ermutigungen an Freunde, Ratschläge an Pfarrer, Berichte über die Gesundheit und vom Gang zur Druckerei oder von seinen Verhandlungen mit den Magistraten. 

Tack-tack-tack hallt es vom Kopfsteinpflaster der Kirchgasse her. Der Spazierstock gibt den Rhythmus vor. Und dann stehen wir mit einigen asiatischen Touristen vor dem Bronze-Zwingli bei der Wasserkirche. Lakonisch meint der Reformationsexperte: «Man könnte beinahe die Bibel übersehen, so übermächtig ist das Schwert.»

Zürcher wie die Philister

Nach seinem Tod auf dem Schlachtfeld von Kappel 1531 war Zwingli in Zürich eine Persona non grata. «Bullinger hat immer wieder versucht, gegen die Deutung anzukämpfen, die Niederlage von Kappel sei ein Zeichen Gottes», so  der kanadische Zwingli-Kenner. Gelehrte des 16. Jahrhunderts dachten jedoch in biblischen Analogien, und so verglichen sie das Heer des mächtigen Zürich, für das Zwingli gekämpft hatte, mit der Schlagkraft der Philister, und die Innerschweizer mit den siegreichen Israeliten. Erst im 19. Jahrhundert fand Zwingli den Weg als Märtyrer auf den Sockel. 

Bruce Gordon dagegen pflegt eine unaufgeregte Heldenverehrung des 21. Jahrhunderts. Nicht das Blut auf dem Schlachtfeld interessiert ihn, sondern wie es in einer ganz kurzen Zeitspanne gelingen konnte, den alten Glauben in Zürich abzuschütteln und die Stadt an der Limmat zu einem Zentrum der Reformation zu machen. «Zürich hatte keine Universität und war kein Bischofssitz», erklärt er mit einem Erstaunen im Gesicht, als könne er es bis heute nicht richtig glauben. Zwinglis Beredsamkeit, seine polemische Wortmächtigkeit, sein Charisma hätten den letzten Ausschlag gegeben, dass Zürich zur reformierten Hochburg wurde. 

Der Gemeinschaftsmensch

Schon steht ein anderes steinernes Zeugnis vor uns, das Zwinglis Reformation erst möglich machte: das Rathaus. Im Vorgängerbau an dieser Stelle ging Zwingli ein und aus. Er sei Politiker und Theologe zugleich gewesen, betont Gordon. Das sei ein wichtiger Unterschied zwischen Luther und Zwingli. Politik habe er schon im Toggenburg kennengelernt. «Immer war er in einer Gemeinschaft», sagt der Yale-Professor. Luther dagegen hätte sich als Mönch in die Klausur zurückgezogen und auch später mehr Zeit in einer Studierstube zubringen können als Zwingli, der viele Alltagsdinge zu regeln hatte – von der Sozial- und Schulpolitik über die Instruktion der Pfarrer bis hin zu den Gesprächen mit den Magistraten. 

Gordons Stock gibt jetzt einen schnelleren Takt vor. Rasch durchschreiten wir den engen Laubengang zur Schipfe. Neben uns fliesst an dem grauen Februartag die Limmat quecksilbrig vorbei. Blässhühner gehen auf Tauchgang. Die fotografierenden Touristen werden in dieser Idylle kaum ahnen, dass sich nicht weit entfernt vor fast 500 Jahren ein tödliches Drama zutrug. 

Am 5. Januar 1527 wurde der gefesselte Täuferführer Felix Manz, der beim Aufbruch der Reformation noch ein Verbündeter Zwinglis gewesen war, vom Scharfrichter in die kalte Limmat gestossen. Lauthals sang er den Psalm 31: «In deine Hand befehle ich meinen Geist». Bevor er jämmerlich ertrank. 

«1988 war ich hier zum ersten Mal», erzählt Gordon. Damals sei noch keine Gedenktafel für die Täufer angebracht gewesen. Seit dieser Zeit habe sich nicht nur die Erinnerungskultur in Zürich gewandelt. «Endlich gehören die Täufer ebenfalls zur Reformationsgeschichte. Sie versinnbildlichen, dass unsere Kirche auch eine verfolgende Kirche war», sagt der Professor mit ernstem Blick auf die Gedenktafel. 

Bruce Gordon weiss, dass er sich mit dem Schreiben seiner grossen Zwingli-Biografie, die nächstes Jahr erscheinen wird, eine schwierige Aufgabe gestellt hat. Den Lesern des 20. Jahrhunderts die Lebenswelt und die Denkweise des 16. Jahrhunderts nahebringen, -ohne dass sie ein über-hebliches Urteil über eine heute fremd anmutende Epoche fällen, wird nicht einfach.