Recherche 15. Mai 2023, von Tilmann Zuber / Kirchenbote

Eine Insel im Pendlerstrom

Seelsorge

Obwohl die Bahnhofkirche etwas abseits im Zwischengeschoss des Zürcher Hauptbahnhofs liegt, wird sie von vielen Menschen besucht. Hier finden sie jemanden zum Reden.

«Haben Sie kurz Zeit für ein Gespräch?», fragt die 50-Jährige die Seelsorgerin Katrin Blome. «Leider nicht, kommen Sie doch später», sagt Blome. Denn die Seelsorgerin hat einen Interviewtermin. Wenig später sitzt sie mit Pfarrer Theo Handschin im Besprechungszimmer der Bahnhofkirche.

Die Einrichtung ist spärlich, ein Tisch, vier Stühle und an der Wand leere Harasse. Darin seien die Schokoladenhasen und die Eier gewesen, die nach Ostern an Bedürftige verteilt worden seien, erzählt Handschin. Für die grossen Hasen hat sich noch kein Abnehmer gefunden.

Oase der Ruhe

Die Bahnhofkirche gibt es seit über 20 Jahren. Sie befindet sich im Zwischengeschoss des Zürcher Hauptbahnhofs, neben der Bahnhofhilfe, den Toiletten und der Kapelle. «Wir sind im Auge des Orkans», sagt Theo Handschin. Täglich kommen 460'000 Passagiere an und hetzen weiter. Hier in der kleinen Kapelle finden sie eine Oase der Ruhe und die Möglichkeit, mit einem der vier Seelsorgerinnen und Seelsorger zu sprechen.

Das Projekt ist von Anfang an ökumenisch, die Kosten teilen sich die Landeskirchen. Die Bahnhofkirche ist ganzjährig geöffnet. Im Durchschnitt kommen täglich sechs Menschen zu den Seelsorgerinnen und Seelsorgern. «Bei uns muss man sich nicht anmelden, jeder und jede kann spontan vorbeikommen», sagt Katrin Blome. «Man muss nicht Mitglied einer Kirche sein, alles ist anonym, und die Gespräche sind kostenlos.»

Beten und weinen

Es ist ein Ort, der allen offen steht. Egal, ob man zum Beten in die Kapelle gehen oder mit jemandem reden möchte. «Es kann vorkommen, dass Gespräche sehr emotional werden und dass Tränen fliessen. Dafür muss sich hier niemand schämen», sagt Blome.

Gerade die Niederschwelligkeit macht den Erfolg der Bahnhofskirche aus. Viele hätten das Bedürfnis, mit jemandem zu reden, ohne gleich zur Psychologin oder zum Gemeindepfarrer zu gehen. 

Gespräche als Geschenk

Und worüber wird gesprochen? Theo Handschin lacht: «Über alles, Liebeskummer, Probleme am Arbeitsplatz, Arbeitssuche, Migration, gesundheitliche und psychische Probleme, Beziehungsprobleme. Manchmal bitten uns die Besucher, mit ihnen zu beten. Oder wir singen mit ihnen ‹Grosser Gott, wir loben dich›.»

Bei schwierigen Problemen vermitteln die Seelsorger und Seelsorgerinnen und Kontakte zu sozialen und psychologischen Einrichtungen. Theo Handschin ist seit sieben Jahren Bahnhofseelsorger, Katrin Blome seit einem halben Jahr. Die Gespräche bezeichnet sie als Geschenk. Man bekomme so viel vom Leben zu hören, es sei beeindruckend, dass sich die Menschen so öffnen.

Die Seelsorge ist das eine Standbein der Bahnhofkirche, das andere ist die Kapelle mit dem interreligiösen Raum der Stille. Bis zu 300 Menschen kehren hier täglich ein. «Auch Muslime kommen hierher, um zu beten», sagt Theo Handschin.