Recherche 29. Oktober 2015, von Susanne Leuenberger

Die Liebe verträgt alles, glaubet alles … Wirklich?

Serie «Grosse Gefühle»

«Das Grösste aber ist die Liebe», sagt die Bibel. In allen Religionen ist Liebe ein zentrales Thema. Aber überall auf der Welt kann Liebe zu Tragödien führen.

In Lars von Triers Film «Breaking the Waves» aus dem Jahre 1997 führen der Altruismus und die Masslosigkeit zweier Liebender in den Abgrund. Dennoch ist der Film ein modernes Märchen über das Gute.

Es war einmal in den 1970er-Jahren, ein puritanisches Dorf im kargen Norden Schottlands, abgeschottet von der Moderne und ihren moralischen Neue­run­gen: Hier trifft die hoch religiöse, geis­tig zurückgebliebene Bess auf Jan, den weit­gereisten Fremden, der auf ­einer na­he gelegenen Bohrinsel arbeitet.

Das Drama. Mit dem Einverständnis des Ältestenrates heiraten die beiden in der dörflichen Kirche, in der sogar die Kirchenglocken fehlen. Und die naive Bess, die ihre Gefühle nicht zurückhalten kann, erlebt mit Jan eine gleichermassen masslose und unschuldige Liebe – bis Jan zurück auf die Bohrinsel muss. Bess verzweifelt an der bevorstehenden Trennung und betet zu Gott, er möge ihm ihren Geliebten zurückbringen.

Auf tragische Weise erfüllt sich ihr Wunsch: Jan verunfallt bei der Arbeit. Bis zum Hals gelähmt, kehrt er als Krüppel aufs Festland zurück. Bess gibt sich die Schuld für den Zustand ihres Mannes, fleht zu Gott um Jans Rettung, und erfüllt ihm jeden Wunsch, den er ihr aufträgt, auch jenen, sich anderen Männern hinzugeben.

Jan möchte, dass Bess ihr Leben auch ohne ihn weiterführt und geniesst, Bess will Jans vermeintliche oder womöglich reale sexuelle Fantasien befriedigen. Und wird so zur Prostituierten, von der puritanischen Dorfgemeinschaft ver­stossen. Immer zügelloser gibt sie sich ihren Freiern hin, um Jan durch ihre sexuellen Ausschweifungen am Leben zu erhalten. Auf einem Schmugglerschiff wird Bess schliesslich von der Mannschaft so arg misshandelt, dass sie ihren Verletzungen erliegt.

Die Liebe. Lars von Triers «Breaking the Waves» handelt von einer Liebe, die grösser ist als das Leben. Bess, die unschuldige Heldin dieses modernen Märchens, stirbt daran, zu gut für die karge und freudlose Welt zu sein, in die der dä­nische Regisseur die junge Frau aussetzt.

Einer strengen Religion der Moral, der Mässigung und der Ordnung stellt Bess ihre überschwängliche, verstörende Religion der Liebe entgegen. Und ihren unbeirrbaren Glauben an die Wirksamkeit ihrer Aufopferung, dem wir folgen mögen oder auch nicht. Anders als die Dorfältesten, die auf Schuld mit Strafe und auf Sünde mit Verdammung antworten, lebt die Liebende Bess ohne Rücksicht auf Verluste: eine heilige Närrin, die sich über ihren Glauben zur Hure macht und ihre Selbstentäusserung bis zur letzten Konsequenz betreibt.

Das Jesuanische. Lars von Triers Universum ist voller Frauen, die leiden. Ein Umstand, der dem zum Katholizismus übergetretenen Enfant terrible des europäischen Autorenfilms zuweilen zur Last gelegt wird. Geschenkt. Selber sieht er Bess als jesuanische Figur – und «Breaking the Waves» als seinen ersten Film, der nicht vom Bösen handle. Vielmehr sei die Aussage: Das Gute existiert.

Die Liebe von Bess als eine masslose, jesuanische: Für den Philosophen ­George Bataille ist gerade die Verschwen­dung, die Masslosigkeit der Bereitschaft, sich selber aufzugeben, das, was das Leben erst möglich macht. Der Surrealist Bataille erkannte gerade in der totalen Ver­ausgabung des Opfers, in der rituellen Zerstörung des Lebens, den Kern mensch­lichen Seins.

Jacques Derrida, ein aufmerksamer Leser und Interpret von Bataille, sah hingegen gerade in der Überwindung des ökonomischen Kalküls von Geben und Nehmen, von Recht und Unrecht, Sünde und Strafe, das die Welt menschlicher Beziehungen durchzieht, die wahre Gabe. Für den Dekonstruktivisten Derrida also eine Art unmöglicher Grösse, etwas Übermenschliches: das zu geben, was man nicht hat. Das hiesse lieben.

So sah es auch der Psychoanalytiker Jacques Lacan. Bess tut im Film genau dies: Und mit ihrer grossartigen Liebe überwindet sie damit die kleinliche, lebensfeindliche Welt, von der sie umgeben ist. Zumindest im Märchen.

Und das Unmögliche geschieht am Schluss des Filmes dann eben doch: Wie durch ein Wunder erwacht der dem Tod geweihte Jan aus seiner Lähmung. Und vom Himmel ertönen Kirchenglocken.

Schluss der Serie «Grosse Gefühle»

Dies ist der letzte Teil der Serie «Grosse Gefühle». Die

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