Recherche 29. August 2014, von Susanne Leuenberger

Verzweiflung – ein schaler Geruch von Schwefel

Serie «Grosse Gefühle»

Kierkegaard nannte sie die «Krankheit zum Tode»: Verzweiflung, das seelische Sterben, setzt Philosophen genauso zu wie dem «Mädchen aus der Streichholzfabrik».

Der Film beginnt mit dem Schälen und Schneiden von Baumstämmen. Kreissägen, Walzen, Stanzmaschinen: Alles geht automatisch. Dann plötzlich die Hände einer Fabrikarbeiterin: Iris kontrolliert die Etiketten auf den Streichholzschächtelchen. Die junge Frau greift in das mechanische Geschehen ein, bringt das monotone Laufband für einen kurzen Moment ins Stocken. «Das Mädchen aus der Streichholzfabrik» ist ein früher Film des Finnen Aki Kaurismäki.

Entseelte Welt. Ein schaler Geruch von Schwefel passt zu der entseelten Welt der Fabrikhallen, der kargen Wohnungen und der schmuddeligen Tanzlokale, die der bitter-komische Streifen entwirft. Zu sagen gibt es wenig: Teilnahmslos sitzen die Eltern von Iris vor dem Fernseher. Die Tochter kocht und bügelt für sie, ernährt sie von ihrem Arbeiterinnenlohn. Im örtlichen Tanzlokal ist die unscheinbare Iris das einzige Mädchen, das sitzen bleibt. Ebenso wenig Zuwendung erfährt sie vom Geschäftsmann Aarne, den sie eines Abends in einer Bar trifft. Als sie am nächsten Morgen in seiner Wohnung aufwacht, ist er weg. Er hinterlässt ihr einen Geldschein. Sie lässt die Note liegen, notiert stattdessen ihre Telefonnummer. Und wartet vergebens auf seinen Anruf.

Ungebrochener Glaube. Als sich Aarne auf ein zweites Treffen einlässt, spricht er den wohl längsten Satz des Filmes: «Wenn Du glaubst, da läuft noch was zwischen uns, täuschst Du Dich. Du könntest mir nicht gleichgültiger sein. Hau ab.»

Wer glaubt, es könnte schlimmer nicht werden, täuscht sich. Aber davon später. Ebenso schmerzhaft wie komisch ist es zuzusehen, wie der ungebrochene Glaube der jungen Iris an die Liebe auf ihre zynische Umwelt trifft: In der Strassenbahn liest sie billige Romanzen, in der Disko lauscht sie sehnsüchtigen Liebesliedern, in der Boutique kauft sie sich ein geblümtes Kleid. Ihre Duldsamkeit erinnert an die Haltung des leidgeprüften Hiob. Nur gibt es hier weder Gott noch Teufel.

Wie kein anderer Denker hat der dänische Philosoph, Theologe und religiöse Schriftsteller Sören Kierkegaard über die Verzweiflung, diese «Krankheit zum Tode», nachgedacht. Er nannte sie einen «kalten Brand», ein auf Dauer gestelltes seelisches Sterben ohne erlösenden Tod.

Für Kierkegaard ist die höchste Form der Verzweiflung die unbewusste: ein Leben in einem Zustand der Geistlosigkeit, des «vollkommenen Abgestorbenseins», ein «lediglich vegetatives Leben». Für den grossen dänischen Melancholiker ist Verzweiflung jedoch die unabwendbare Grundbestimmung menschlichen Daseins.

Glücklicher Sisyphus. Mit der Feststellung der existenziellen Unmöglichkeit, sich selber oder der Welt zu genügen, steht er dem Absurdisten Albert Camus nah. Im Unterschied zu diesem sieht der Christ Kierkegaard aber den Glauben als einzigen Ausweg aus dem Dilemma des Menschen, entweder hinter seinen Möglichkeiten zurückzubleiben oder an den eigenen Idealen zu zerbrechen.

Der Atheist Camus rechnet nicht mehr mit Gott, sein absurder Mensch ist ein Ungläubiger, der aber nicht ohne Hoffnung ist. Gerade im niemals siegreichen Widerstand gegen das Sinnlose und das Zerrissene ist er ein «glücklicher Mensch». Camus' Sisyphus ist trotz widriger Umstände Herr seiner selbst, denn «sein Fels ist seine Sache».

Besiegte Verzweiflung. In Kaurismäkis Film ist es weniger die Heldin Iris, die verzweifelt, eher sind es die Menschen, auf die Iris trifft, die ebenso gleichgültig funktionieren wie die Kreissägen, Walzen und Stanzmaschinen der Streichholzfabrik: In sinnloser Monotonie darben sie vor sich hin.

Iris dagegen nimmt am Ende ihr Leben selbst in die Hand; sie treibt nicht ab, wie es der Geschäftsmann von ihr verlangt. Als sie jedoch bei einem Autounfall ihr ungeborenes Kind verliert und von ihren Eltern daraufhin verstossen wird, reicht es schliesslich auch der duldsamen Iris.

Nur ein einziges Mal fangen die Streichhölzer im Film Feuer – nachdem sich Iris Rattengift besorgt hat, um damit ihren Ex-Liebhaber und ihre Eltern zu vergiften. Nach getaner Arbeit entzündet die junge Frau eine Zigarette, geht zurück in die Fabrik und wartet auf die Polizei.