Recherche 25. März 2014, von Susanne Leuenberger

Scham – aus dem Paradies vertrieben, so erröten wir

Serie «Grosse Gefühle»

Wie Menschsein mit Scham beginn und Scham vor Verletzlichkeit schützt. Eine Erkundung mit der Theologin Regine Munz und Mr. Bean.

Erst als er die Badehose aus dem Hosensack zieht, bemerkt der Badefreudige den Mann im Liegestuhl, der schon vor ihm hier war: dessen dunkle Brillengläser sind unverwandt auf ihn gerichtet. Das Wissen um die Gegenwart des Zuschauers verwandelt seine Vorfreude in Pein – wie soll er sich vor dem unliebsamen Beobachter umziehen? «The Beach» ist eine Episode der irrsinnig komischen Mr.-Bean-Sketches. Der Witz der erfolgreichen BBC-Serie entsteht in der Peinlichkeit der Titelfigur: Hier sind es Beans ungelenke Versuche, seine Badehose anzuziehen, ohne sich vor dem Fremden zu entblössen, die uns zum Lachen bringen.

Blick. Scham hat viel zu tun mit dem Blick des Anderen: «Es ist das Gefühl, das sich einstellt, wenn ich merke, dass etwas sichtbar wird, was ich vor anderen verbergen möchte», beschreibt Regine Munz das Gefühl der Blossstellung. Die evangelisch-reformierte Theologin, die an der Uni Basel lehrt, ist zugleich Seelsorgerin in der Psychiatrischen Klinik Baselland und hat sich eingehend mit Scham beschäftigt. Scham ist unangenehm und wirft die von diesem Gefühl befallene Person auf sich selbst zurück: Beans sehnsüchtiger Blick auf den weiten Horizont weicht schlagartig dem Bewusstsein über die eigene Lächerlichkeit. Dem Beobachter ausgesetzt, schrumpft unser Schwimmer in spe zu einer peinlichen Gestalt. Munz betont das körperlich Überwältigende von Scham: «Man hat das Gefühl zu implodieren, möchte im Erdboden verschwinden.» Dennoch sei Scham lebenserhaltend, so die Theologin – Scham helfe, die Grenzen zwischen dem Selbst und den Anderen zu wahren.

Schutz. So beginnt das Menschsein mit der Fähigkeit zur Scham, wie bereits die biblische Erzählung von der Vertreibung aus dem Paradies weiss. Adam und Eva fühlen sich im Paradies eins mit der Welt, haben kein Bewusstsein ihrer Nacktheit. Erst als sie vom «Baum der Erkenntnis» essen, das göttliche Verbot überschreiten, erkennen sie gut und böse und schämen sich, nackt vor Gott und voreinander zu sein. Munz interpretiert die Grenzüberschreitung Gott gegenüber als Geschichte der Selbsterkenntnis: «Erst mit der Scham erwächst ein Bewusstsein für ein klar abgrenzbares Selbst und für den Anderen, ein Wissen um die eigene Begrenztheit, aber auch Verletzlichkeit und Schutzbedürftigkeit.» Die Genesis erzählt, wie Menschsein mit Schwäche seinen Anfang nimmt und Scham den Menschen vor seiner Verletzlichkeit schützt.

Blösse. Demgegenüber hat Scham heute einen schweren Stand. Schamhaftigkeit gilt als verklemmt – soziale Medien, Casting-Shows und Reality-TV setzen auf Selbstdarstellung und Exhibitionismus. Die Kultivierung der seelischen und körperlichen Offenlegung stütze sich auf den menschlichen Wunsch nach Anerkennung: «Hinter diesen Inszenierungen des Selbst steht die Sehnsucht nach Angenommensein, Gesehenwerden, Geliebtwerden.» Dabei drohe aber die Gefahr der Blossstellung und missbräuchlichen Überschreitung von Grenzen. Die Seelsorgerin begleitet Menschen, deren Schamgrenzen überschritten wurden: hinter Suchterkrankungen und Depressionen stehe oft das Empfinden von Abwertung und Ablehnung. Es gehe in ihrer Arbeit darum, den Menschen das Bewusstsein ihrer Würde wiederzugeben. Dabei sei es für diese zentral, eine Sprache zu finden, um über ihre Verletzungen sprechen zu können, denn: «Scham ist oft von grosser Sprachlosigkeit begleitet.»

Munz findet in der christlichen Tradition viele Angebote, die menschliche Erfahrung von Versehrtheit und Mangelhaftigkeit zu Wort zu bringen und diese als Grundvoraussetzung des Menschseins anzunehmen. So spreche Psalm 123 vom «Gnädigen Antlitz des Herrn»: Es sei ein Bittgebet um den göttlichen gnädigen Blick, der das Selbst stärke, «der mich sieht, der mich annimmt, mit allen meinen Schwächen und meiner Schuld, und sich nicht von mir abwendet».

Ein gnädiger Blick auf das unvollkommene Selbst; unverwandte Aufmerksamkeit, die nicht blossstellen will: zumindest Letztere wird auch Mr. Bean zuteil – der bebrillte Beobachter im Liegestuhl, das ist der Clou, entpuppt sich am Ende als Blinder, dessen entblössender Blick als bloss vorgestellter.