Am 30. Januar 1963 landete Thubten Zahner als kleiner Bub mit einer Gruppe tibetischer Kinder am Flughafen Zürich. Zahner gehört zu den 160 tibetischen Flüchtlingskindern, die in den 1960er-Jahren auf Initiative des Oltner Industriellen Charles Aeschimann in die Schweiz kamen. Der 14. Dalai Lama hatte die Idee, Kinder in der Schweiz auszubilden und sie später dann als qualifizierte Fachkräfte in ihre Heimat zurückzuholen. Dabei sollten sie in der Schweiz weiterhin ihre Sprache und ihren Glauben pflegen.
Thubten Zahner spricht heute kein Tibetisch, bezeichnet sich als «spirituell interessierten Atheisten» und will nicht nach Tibet zurück, solange China das Land besetzt hält. Zahner ist in einer kinderlosen Pflegefamilie in Aarau aufgewachsen. Seine Kinder- und Jugendzeit hat er in guter Erinnerung: «In der Schule war ich der Exot, neben dem alle sitzen wollten.» Die Tibeter gehörtenzu den ersten aussereuropäischen Flüchtlingen in der Schweiz. Nur etwas wirft Zahner seinen Pflegeeltern vor: Sie hätten ihn zuerst in den Kindergarten und nicht direkt in die Schule schicken sollen. «Den Schulstoff kapierte ich meist erst zweiJahre später», sagt Zahner, der vermutet, zwei oder drei Jahre jünger zu sein, als in seinem Schweizerpass vermerkt ist.
Flucht nach Indien
Zahners leibliche Eltern flüchteten 1959 mit ihm als Baby und sechs weiteren Familienmitgliedern vor den chinesischen Kommunisten aus Tibet nach Indien. Die Mutter und drei Geschwister starben auf der Flucht. Der Vater wurde nach einigen Tagen im indischen Auffanglager für den Strassenbau eingezogen. Die drei Knaben kamen in ein Kinderheim in Dharamsala, wo Thubten Zahner als einziger seiner Geschwister zurückblieb. «Aus dieser Zeit sind mir die Peitschenschläge noch in Erinnerung, und wie wir zu sechst quer in einem Kajütenbett geschlafen haben», so Zahner. Dann sei er abgeholt worden. Mit dem Zug ging es nach Neu-Delhi und per Flugzeug nach Zürich.
1971 trat sein Bruder in Indien mit Zahner brieflich in Kontakt. Da erfuhr Zahner, dass sein Vater noch lebte. «Meine Pflegeeltern freuten sich, dass ich noch einen Vater hatte.» Für viele Pflegeeltern war diesdamals aber ein Schock, denn sie meinten, ein Waisenkind bei sichaufzuziehen. Tatsächlich aber waren nur wenige der Kinder, die mit der «Aktion Aeschimann» hierherkamen, Vollwaisen. An der Aktion gibt es weitere Kritikpunkte, wie das eben dazu erschienene Buch«Tibetische Kinder für SchweizerFamilien» aufzeigt; so lagen etwa keine Zustimmungen der leiblichenEltern für die Aufnahme in einer Pflegefamilie vor.
Ein edler Gedanke
Zahner beurteilt die Aktion Aeschimann letztendlich aber als positiv. «Ich und viele andere haben gute
Erfahrungen gemacht. Die Mehrheit der Pflegekinder sind heute erfolgreiche Akademiker, Lehrer oder Ärzte.» Andere Pflegekinder hattenweniger Glück. Sie kamen mit den Familien nicht klar, wurden neu untergebracht oder sogar in Arbeitserziehungsanstalten gesteckt. Die Kritik an Aeschimann und am Dalai Lama kann Zahner nicht nachvollziehen. Schliesslich habe nicht Aeschimann die Kinder ausgewählt. Und zum Dalai Lama meint er: «Er war zu jener Zeit 25 Jahre jung und mit der Flüchtlingssituation völlig überfordert. Er hatte einen edlen Gedanken, der sich aber als illusorisch herausstellte.»
Buch: Sabine Bitter, Nathalie Nad-Abonji: Tibetische Kinder für Schweizer Familien. Die Aktion Aeschimann. Rotpunktverlag, 2018, 240 Seiten, Fr. 38.–