«Scham ist ein wichtiger Schutz»

Ethik

Wer pflegebedürftig wird, erlebt oft Schamgefühle. Die Theologin Melanie Werren befasst sich mit der Frage, wie sich Würde stärken lässt.

Sie befassen sich seit Jahren mit dem Thema Würde im Alter. Warum liegt das Ihnen so am Herzen? 
Melanie Werren: Vor meinem Theologiestudium arbeitete ich acht Jahre als Pflegefachfrau in verschiedenen Bereichen der Geriatrie. Ich erlebte viele Situationen, in denen ältere Menschen, besonders Menschen mit Demenz, beschämt wurden oder in denen ihnen die Würde abgesprochen wurde. Meine Intuition, dass dies nicht in Ordnung ist, führte mich zu diesem Thema.   

Was sind typische Situationen in der Betreuung eines Menschen, die Scham auslösen? 
Wer Menschen pflegt, ist ihnen ständig nahe, etwa bei der Körperpflege oder bei Transfers. Es gibt unzählige Situationen, die bei Menschen Scham auslösen können. Wenn sie nackt sind oder ihren Körper nicht kontrollieren können, zum Beispiel inkontinent sind. Auch die pflegende Person kann Scham bewirken, wenn sie Schmerzen nicht ernst nimmt oder jemanden im Rollstuhl fährt, ohne darüber zu informieren, wohin es geht.  

Wie äussert sich Scham? 
Viele erröten oder senken den Blick, sie möchten sprichwörtlich im Boden versinken. Scham drückt sich auch dann manchmal aus, wenn jemand schimpft und schlägt. Betroffene benennen sie selten verbal.    

Warum empfinden wir Scham? 
Sie zeigt an, dass Werte verletzt werden, die die Gesellschaft festgelegt hat und die wir verinnerlicht haben. Zum Beispiel: Wenn ich durch ein Schlüsselloch schaue und niemand sieht es, schäme ich mich trotzdem, weil man das nicht tut. Scham hält uns davon ab, Grenzen zu übertreten, ist also ein wichtiger Schutzmechanismus. Aber sie tritt auch dann ein, wenn man Werten nicht entsprechen vermag, etwa dem gesellschaftlichen Ideal des selbstbestimmten, kognitiv gesunden Menschen. Aus diesem Grund fürchten sich viele Menschen, eines Tages an Demenz zu erkranken. 

Ihre Dissertation handelte davon, wie man die Würde von Menschen mit Demenz gestalten kann.Welche Schwierigkeit stellt sich da? 
Eine Demenz symbolisiert all das, was für uns nicht das gute Leben darstellt. Deshalb wird Menschen mit Demenz häufig die Würde abgesprochen. Und wer an Demenz erkrankt, kämpft sehr damit, denn die Person realisiert, dass vieles nicht mehr geht, erlebt einen Misserfolg nach dem anderen. Darum ziehen sich Menschen mit Demenz oft zurück. Das beschleunigt aber den Erkrankungsprozess. Auch darum ist es so wichtig, dass Angehörige und Pflegende für diese Herausforderungen ein Bewusstsein entwickeln.

In der Geriatrie erlebte ich viele Situationen, in denen ältere Menschen be­schämt wurden.
Melanie Werren

Nun findet eine Tagung für Menschen aus der Medizin, der Theologie und für Angehörige und Betroffene zum Umgang mit Scham statt. Wird Scham im Pflegealltag zu wenig thematisiert?  
Es wird schon darüber gesprochen, aber immer noch wenig. Mit Scham umzugehen, ist für pflegende Menschen eine grosse Herausforderung. Man muss sich stark auf die Tätigkeit konzentrieren und gleichzeitig sensibel mit der Würde des Gegenübers umgehen. Das ist nicht so einfach, gerade wenn die Zeit knapp ist – was im Berufsalltag oft der Fall ist. Sich nicht genügend auf das Gegenüber einzulassen, kann auch die pflegende Person beschämen. Die Tagung soll dafür sensibilisieren und Handlungsmöglichkeiten aufzeigen.  

Bitte nennen Sie ein Beispiel: Wie kann ich die Würde einer pflegebedürftigen Person stärken?  
Beim Waschen könnte man beispiels-weise jene Körperstellen bedecken, die man gerade nicht reinigt. Oder man lässt die Person möglichst viel selbst machen, zieht einen Vorhang und bleibt in der Nähe. Auch da spielt der Zeitfaktor allerdings oft negativ hinein: Wenn ich keine Zeit habe, wasche ich eine Person lieber schnell selbst.  

Soll man den Menschen, der unangenehme Gefühle zeigt, darauf ansprechen? 
Ja. Man kann fragen, ob ihm gerade unwohl sei, und Verständnis zeigen. Oder fragen, was jetzt guttun würde. Gar nicht hilfreich sind Sätze wie: «Sie müssen sich doch nicht schämen!» Das ist gut gemeint, aber es drückt aus, dass man den anderen in seinem Erleben nicht ernst nimmt. Das ist nochmals eine Demütigung. Vielleicht kann man zusammen Strategien entwickeln, wie es für die Person angenehmer ist, so bleibt man auf Augenhöhe. Will der Betroffene nicht darüber reden, muss man es stehen lassen.  

An der Tagung referieren zahlreiche Theologen. Wie kann die Theologie zum Thema beitragen? 
Pfarrerinnen und Pfarrer haben oft mit Menschen zu tun, die mit ihrer Würde hadern. Sie können ihnen den Raum geben, über Gefühle der Demütigung zu reden. Und sie können sie vor allem stärken. In der jüdisch-christlichen Tradition wird dem Menschen als Ebenbild Gottes in jeder Situation eine besondere unverlierbare Würde zugeschrieben. Das können Seelsorger ausdrücken, es ist ein wichtiger Aspekt ihrer Arbeit. Aus meiner Erfahrung erzählen Betroffene oft eher dem Pflegefachpersonal von ihren Gefühlen, da dieses näher an ihnen dran ist. Allerdings haben Pflegende oft keine Zeit für Gespräche, worunter viele von ihnen leiden.  

Im Heim oder Spital kann die Seelsorge also das stärken, was gerade dort auf wackeligem Boden steht. 
Ja. In der Pflege muss man ein Pflegeziel erreichen. Seelsorge hingegen ermöglicht eine zweckfreie Begegnung. Es reicht aber nicht zu sagen: «Vor Gott sind alle gleich.» Und dazu Bibelverse zitieren. Auch die Seelsorge muss am Leben der betroffenen Person anknüpfen. Was ich generell äusserst wichtig finde: Es ist Aufgabe der Kirche, ein Menschenbild zu vermitteln, das Angewiesensein mit einschliesst. Kein Mensch kann allein leben. Leider lässt sich das gängige Ideal vom autonomen Menschen nur schwer ändern. 

Tagung zu Scham und Würde

An der Tagung «Wenn der Körper demütigt» am Welt-Alzheimertag tauschen sich Betroffene, Angehörige, Freiwillige, Pflegefachleute und Seelsorgende darüber aus, wie Würde im Umgang mit zunehmender Pflegebedürftigkeit gestaltet werden kann. 

Tagung: 21. September, 9.30–16.30 Uhr, Zürich. Anmeldung bis 15. September:
sekretariat@theol.uzzh.ch

-> die Tagung wurde abgesagt. 

Melanie Werren, 40

Melanie Werren, 40

Werren ist seit 2022 Dozentin für interprofessionelle Lehre und Praxis an der Zürcher Fachschule für Angewandte Wissenschaften und seit 2023 Privatdozentin für Systematische Theologie mit Schwerpunkt in Ethik an der Theologischen Fakultät Bern.