Eine Skizze, die zur Ikone geworden ist

Kunst

Sie berühren Menschen in aller Welt: die «Betenden Hände» von Albrecht Dürer. Handwerkliche Brillanz hat zu ihrer Berühmtheit beigetragen, vermutlich aber auch eine Gaunerei.

Wer durch einen Friedhof schlendert, sieht sie. Wer in einem Pilgershop stöbert, sieht sie. Wer die Häuser von älteren Menschen aufsucht, sieht sie. Sie sind gut 500-jährig und immer noch allgegenwärtig, in Holz, Metall, Wachs, auf Papier, Karton, Plastik und, als Tattoo-Motiv, sogar auf Menschenhaut: die «Betenden Hände» von Albrecht Dürer (1471–1528), einem der grössten Renaissance-Künstler nördlich der Alpen.

In diesen schön geformten, schlanken, andächtig aneinandergelegten Händen, fast engelsgleich aus dem Nichts kommend und – zumindest im Original – von einer meditativen blauen Fläche umgeben, zeigen sich die ganze Intimität, Innigkeit und Mystik des Betens, der Zwiesprache mit Gott.

Auf Andy Warhols Grab

Was hat es mit dieser meisterlich gefertigten, fein schraffierten und weiss gehöhten Zeichnung auf sich? Zunächst einmal ist festzuhalten: Bei diesem Geniestreich handelt es sich nicht um ein fertiges Werk, sondern um eine Studie. Dürer fertigte sie im Zuge der Vorarbeiten an einem Altarbild an, das der Frankfurter Patrizier Joseph Heller 1507 bei ihm bestellt hatte.

Die Dürer-Hände zeigen die ganze Intimität, Innigkeit und Mystik des Betens.

Vom vollendeten Werk, das die Krönung und Himmelfahrt Mariens zeigt, ist nur noch eine Kopie erhalten, das Original ging 1729 bei einem Brand verloren. Auf dem Bild zu sehen sind, neben zahlreichen weiteren biblischen Gestalten, auch drei Apostel, welche die Hände nach dem Vorbild der Studie zusammenlegen. Zwei von ihnen tun dies seitenverkehrt – wie die Dürer-Hände auf dem Grab von Andy Warhol. Das Motiv ziert sogar den Grabstein des prominenten amerikanischen Pop-Art-Künstlers.

Allgemein verständlich

Ein Artikel von Uta Baier in der deutschen Zeitung «Die Welt» macht klar: Die Verehrung gerade dieser Zeichnung habe erst im 20. Jahrhundert eingesetzt, als sich die Kunst weg von der naturalistischen Darstellung hin zur Abstraktion und zum Konzept gewandt habe. Dieser Wandel habe zahlreiche Liebhaber der Kunst bis heute überfordert: «Sie wollen handwerkliche Meisterschaft sehen und bewundern.» Eine Meisterschaft, die sich in Dürers betenden Händen exemplarisch und allgemein verständlich äussert: Es sind gekonnt zu Papier gebrachte Hände, weiter nichts; dieses Bild bedarf keiner Interpretation.

Zahlreiche Kunstliebhaber wollen handwerkliche Meisterschaft sehen und bewundern.
Uta Baier, Kunsthistorikerin

Auch heutigen Berufszeichnern nötigt Albrecht Dürers Können Respekt ab. «Die Dürer-Hände sind wunderschön gezeichnet. Durch ihre Einfachheit wirken sie sehr plakativ und einprägsam. Ich bin ihnen erstmals mit acht Jahren auf einer Trauerkarte für meinen verstorbenen Bruder begegnet. Sie sind für mich bis heute ein Symbol für Zuversicht und Glaube geblieben», erklärt etwa der Cartoonist Christoph Biedermann, der seit Jahren regelmässig auf der letzten Seite von «reformiert.» zeichnet.

In der Fernsehdokumentation «Ich, Albrecht Dürer» des Bayerischen Rundfunks ist zu erfahren, dass Dürers Original heute im Wiener Albertina-Museum aufbewahrt wird. Ursprünglich habe sich die Skizze zusammen mit der Studie zu einem Apostelkopf auf demselben Papierbogen befunden, berichtet Albertina-Direktor Klaus Albrecht Schröder in dieser Sendung.

Später jedoch wurde das in italienischer Manier blau grundierte Blatt geteilt – vermutlich im frühen 19. Jahrhundert vom ersten Direktor der Albertina, einem Franzosen, der Dürer-Skizzen veruntreut hatte und daraufhin einige der verbliebenen Bögen zerschnitt, um den Verlust anzahlmässig auszugleichen und so seine Gaunerei zu vertuschen. Vielleicht habe, mutmasst Schröder, nicht zuletzt gerade diese Isolation der betenden Hände zu ihrem Ikonenstatus beigetragen.

Es ist zu wünschen, dass das Bild auch noch kommende Generationen berührt.
Max Spring, Cartoonist

Die Darstellung sei schon «extrem berühmt», bestätigt auch der Berner Zeichner Max Spring. Wenn er sie betrachte, denke er daran, dass sie als Reproduktion 500 Jahre lang in unzähligen Schlafzimmern und Stuben gehangen habe. Irgendwie schwinge da auch etwas leicht Verstaubtes mit. So stelle sich denn die Frage, ob das Bild auch kommende Generationen noch berühren werde. «Zu wünschen wäre es», findet Max Spring. «Die ‹Betenden Hände› strahlen Ruhe aus und erinnern – natürlich – ans Beten. Gebete können wir in unserer enorm herausfordernden und schwierigen Zeit sehr gut brauchen.»