Recherche 19. Januar 2022, von Felix Reich

«Ein geniales Mittel der Propaganda»

Kultur

Der Schriftsteller Lukas Bärfuss über die Propaganda in den Seligpreisungen und die Angst vor der Armut, Zwingli als Feindbild und was Autoren von der Bibel lernen können.

Sie haben von Grossmünsterpfarrer Christoph Sigrist die Seligpreisungen Jesu (Lk 6,20–23) als Predigttext erhalten. Was fangen Sie damit an?

Lukas Bärfuss: Zuerst interessiert mich die Form. Auffällig ist die Wiederholung: Vier Verse beginnen mit dem Wort «selig». Es ist eine performative Form, sie erinnert an den Gesang. Und die Form ist bis heute wirksam.

Wo?

Im politischen Diskurs, der von der religiösen Sprache beeinflusst ist. Die grossen Redner von Martin Luther King bis Barack Obama bedienten sich hier. Auch in der Populärkultur gibt es Anklänge.

Kann diese wiederholende, fast Mantra artige Form auch manipulativ wirken?

Unbedingt. Dieser Sprechakt will auf eine Gruppe von Menschen eine bestimmte Wirkung erzielen. Die Feldpredigt im Lukasevangelium ist eine öffentliche Situation. Sie ist transformativ, Jesus will etwas in Gang setzen. Deshalb ist seine Predigt auch propagandistisch. Propaganda – ob politisch, religiös oder wirtschaftlich – arbeitet mit der Wiederholung von wenigen, eingängigen Sätzen.

Wofür macht Jesus denn Propaganda?

Für sich selbst wahrscheinlich. In den Seligpreisungen wird erst spät über den Zeitpunkt gesprochen. Die Armen sollen das Reich Gottes erhalten, die Weinenden lachen, die Hungrigen satt werden: alles cool! Aber wann wird das bloss geschehen? Die leise Enttäuschung folgt auf dem Fuss: leider erst im Himmelreich.

Ist das Himmelreich tatsächlich das Jenseits oder ist es mit dem Evangelium schon angebrochen?

Für Zwingli, auf dessen Kanzel ich im Grossmünster predigen werde, war der Fall klar: Das Himmelreich ist das Erst-im-Jenseits. Seine Haltung zu den Täufern, welche die Heilsbotschaft diesseitig und damit politisch verstanden haben wollten, war rigide bis brutal.

Dann sind die Seligpreisungen nur Vertröstung statt Trost?

Da bin ich mir nicht sicher. Die Befreiungstheologie und die religiös-soziale Bewegung haben durchaus versucht, diese Versprechen in die diesseitige Welt zu übersetzen. Mich beschäftigt eine andere Sache, und sie ist sehr aktuell: Man kann Religion als Verschwörungserzählung lesen: Einer ist für alles verantwortlich, und was immer auch geschieht, es gibt dahinter eine Absicht. Diese Sehnsucht nach Auflösung aller Widersprüche ist eine anthropologische Konstante. Eine politische Theologie, die sich ohne Gottesbezug etablieren will, bedient diese Sehnsucht.

Ist das wirklich so? Als gläubiger Mensch muss ich mit wahnsinnig vielen Widersprüchen leben. Nur schon die Bibel ist ein widersprüchliches Buch. Im Alten Testament bin ich mit den unterschiedlichsten Gottesbildern konfrontiert, im Evangelium wird dann ein ohnmächtiger Gott vorgestellt, der sich seiner Kreuzigung nicht entziehen kann. Auch die Seligpreisungen sind nicht frei von Widersprüchen.

Das stimmt natürlich. Es gibt auch das Buch Hiob. Der Philosoph Søren Kierkegaard versteht den Zweifel an Gott gar als Kennzeichen des Glaubens. Trotzdem gibt es für Gläubige die Aussicht, dass diese Fragen eines Tages entschieden werden.

Im Himmelreich?

Ja. Damit verbunden ist die Annahme, dass mit dem Tod nicht alles endet, sondern die Wahrheit offenbar und von der Lüge geschieden wird. Im heutigen Protestantismus vermissen viele Menschen dieses Bewusstsein, die Klarheit, dass einmal entschieden wird zwischen den Seligen und den andern. Wer wird dazu gehören? Irgendjemand aus Zürich? Nach dem Lukasevangelium scheint das sehr ungewiss. Die Reichen passen bekanntlich nicht durchs Nadelöhr.

Lukas Bärfuss (50)

Das Werk von Lukas Bärfuss wurde mehrfach ausgezeichnet. 2019 erhielt er den Georg Büchner-Preis. Seine Theaterstücke werden weltweit gespielt. Seine Romane «Hundert Tage», «Koala» und «Hagard» erschienen zwischen 2008 und 2017. Zuletzt veröffentlichte er den Essayband «Die Krone der Schöpfung». Bärfuss unterrichtet an verschiedenen Hochschulen. Am Sonntag, 6. Februar, predigt der Schriftsteller im Grossmünster in Zürich. Der Gottesdienst beginnt um 10 Uhr.

Verschwörungstheoretiker haben für alle Phänomene eine Erklärung, sie kennen den Grund. Hat die Religion den gleichen Anspruch?

Nein. Aber der Glaube, dass es eine Erklärung gibt für das, was geschieht, bleibt lebendig. Selbst wenn Christen den Grund nicht zu erkennen vermögen, so gehen sie doch davon aus, dass es ihn gibt. Nicht alles ist Zufall, nicht alles willkürlich und der weltlichen Macht geschuldet. 

Dann ist die Differenz zur politischen Theologie, dass die Religion immerhin nicht vorgaukelt, die ganze Wahrheit zu kennen? 

Die Kirche ist einen langen Weg gegangen, bis sie an diesen Punkt gelangte. Der Prozess war nicht freiwillig, er war mit vielen Niederlagen verbunden. Die längste Zeit in der Kirchengeschichte war klar, was das Heil bedeutet und welcher Pfad in den Himmel führt. 

Zurück zum Predigttext: Was verstehen Sie eigentlich unter «selig»? 

Die Bibel in gerechter Sprache übersetzt es mit glücklich. 

Eine geglückte Übersetzung oder würden Sie anders übersetzen?

Das ist eine sehr gute Frage. Und ich weiss nicht, ob ich darauf eine Antwort habe. Seligkeit hat mit Frieden zu tun. Er ist nicht ausschliesslich sozial, es ist vor allem ein innerer Friede. Stille, die Abwesenheit von Lärm gehört zum Seligen. Im griechischen Urtext ist das Wort «selig», mit dem sich Jesus den Armen und Hungernden zuwendet, ausserdem ein Gruss. Auch im Hebräischen ist Schalom, der Friede, die Formel der Begrüssung. Bezaubernd, wenn man sich mit dem Frieden begrüsst. 

Dann ist «Selig ihr Armen» als ein Akt der Inklusion zu verstehen? Jesus ruft die Ausgestossenen in die Mitte, indem er sie anspricht.

Die Seligpreisungen im Lukasevangelium sind an bestimmte Gruppen gerichtet. Diese Anerkennung ist eine grosse Sache und keineswegs selbstverständlich: Arme werden oft übersehen. Hier werden sie gesehen – und gerochen. Armut stinkt und ist hässlich. Wir wenden den Blick von den Armen ab. Das Elend ekelt uns ganz unmittelbar. Die Seligpreisungen stellen diesem Impuls der Ablehnung ein Moment der Anerkennung entgegen. 

Das Überwinden dieser Grenze, das Berühren der Aussätzigen ist ohnehin ein wichtiges Motiv im Lukasevangelium. Wir fürchten uns ja oft, hineingezogen zu werden in das Elend der Anderen. Jesus tritt gegen diese Angst an und lässt sich berühren von der Not, der Krankheit. 

Alle kennen den Reflex, sich abzuwenden. Wenn uns jemand anbettelt, ist es selten der Verlust von fünf Franken, der uns bekümmert, sondern die Berührung mit der Armut. Wir verstehen: Ich könnte werden wie du. Wenn ich mich in deiner Situation vorstelle, was bleibt dann noch übrig von mir? Wenn man mir meinen Status wegnimmt: Bin ich dann noch jemand? 

Wir haben Angst, dass Armut ansteckend wirkt wie der Aussatz, von dem die Bibel erzählt?

Die Armen sind die Träger der Geschichte. Die Erfahrung wird an ihnen sichtbar. Reichtum führt zur Erfahrungsvermeidung. Was wir besitzen, schützt uns. Deshalb brauchen wir die Armut, um etwas zu erfahren über unsere Herkunft. Und es kommt für alle der Tag, an dem wir alles verlieren. Das Wann in diesem ersten Vers der Seligpreisung bezieht sich auch auf das Subjekt: Es kommt für uns alle der Moment, in dem wir entledigt werden von allem Reichtum und Status. Wann werde ich arm sein? 

Im vierten Vers werden jene selig gesprochen, die ausgeschlossen und beschimpft werden, deren Namen in den Dreck gezogen wird. Das klingt ein bisschen nach Sekte.

Ein geniales Mittel der Propaganda, es ist maximal anschlussfähig: Alle dürfen sich gemeint fühlen. Auch ich werde schlecht behandelt, also darf auch ich hoffen. Da schwingt etwas Revanchistisches mit. 

Zurzeit fühlen sich viele Gruppen schlecht behandelt, flüchten sich in die Opferrolle.

Nietzsche hat nicht von ungefähr das Ressentiment als wesentliches Merkmal der bürgerlichen Gesellschaft definiert: Alle glauben, nicht das zu bekommen, was ihnen eigentlich zusteht. Das Ressentiment ist unabhängig vom Besitz. Egal wie viel Geld oder Anerkennung sie bekommen, für manche reicht es nie. Und es gibt in diesem Bibelvers noch eine andere, weitere Resonanz. 

Nämlich?

Eine Gedichtzeile von Berthold Brecht aus dem «Lied vom Fluss der Dinge» kommt mir in den Sinn: «Beharre nicht auf der Welle, die sich an deinem Fuss bricht, solange er im Wasser steht, werden sich neue Wellen an ihm brechen.» Man wird nicht immer geliebt. Es muss eine andere Form der Anerkennung geben. Es wird bloss einen Moment geben, in dem sie nichts als Gutes über dich sagen werden, und dies wird deine Totenrede sein, die du aber nicht mehr mitbekommen wirst. Bis dahin musst du damit klarkommen, dass du Widerstände und Zweifel verursachst. 

Folgen wir dieser Spur, wenden sich die Seligpreisungen somit gegen das eitle Ressentiment. Gibt es denn Werte, von denen Sie sagen würden: Dafür lohnt es sich, standhaft zu bleiben, koste es, was es wolle?

Sie fragen nach der Dogmatik. 

Sie ist doch präsent in den Evangelien. 

Natürlich. Es läuft auf die Frage hinaus: Wofür bist du bereit zu sterben? In einer postheroischen Gesellschaft müssen wir uns mit dieser Frage zum Glück nicht mehr auseinandersetzen. Andere Menschen besitzen dieses Privileg nicht. 

In den Seligpreisungen schwingt die Frage trotzdem mit.

Das ist so. Aber eine demokratische Gesellschaft hat dafür zu sorgen, dass wir nicht zu einer Antwort gezwungen werden und wir uns nicht zwischen Leben und Tod entscheiden müssen. 

Können wir den Vers auch als Aufforderung zur radikalen Gesellschaftskritik lesen, die in die Weltabgewandtheit führt? Im Sinne von: Ich ziehe mich zurück aus der Welt, die mich ausgrenzt? 

Nein. Kritik setzt Zuwendung voraus. Wenn ich jemanden kritisiere, wende ich mich ihm zu. Ich kann nur kritisieren, was ich anerkenne. Das wird häufig missverstanden. Jede soziale Gruppe kennt den Dreischritt von Konvention, Konformismus und Sanktion. Eine Gesellschaft erlässt Regeln, fordert ihre Einhaltung und bestraft ihre Missachtung. Was wir zurzeit als so genannte Spaltung der Gesellschaft bezeichnen, betrifft den Konformismus. Jene, die sich in der Pandemie nicht an die Massnahmen halten, verhalten sich unkonformistisch. Es ist zweitrangig, die Konventionen zu ändern. Das ist egoistisch: Ich breche die Regeln, aber mir ist Wurst, was der andere macht. In einer demokratischen Gesellschaft hat die Mehrheit die Möglichkeit, die Konventionen zu verändern, aber der Einzelne muss sich an die kollektiv vereinbarten Regeln halten. 

Konventionen müssen entweder für alle geändert werden oder für niemanden?

So lautet das demokratische Prinzip. Es ist gefährdet. Wir erlassen immer mehr Konventionen für immer kleinere Bevölkerungsgruppen. Beim Aufenthaltsstatus sind wir mittlerweile beim Buchstaben F angelangt. Wir haben damit sechs verschiedene Konventionen für Menschen mit unterschiedlichen Aufenthaltstiteln. Ich halte das für illegitim. In einem demokratischen Staat sollten für alle die gleichen Gesetze gelten. 

Was bedeutet es für Sie, in einem Kirchenraum von der Kanzel herab zu sprechen? 

Das ist nicht mein Habitus, doch ich begebe mich gerne in ungewohnte Situationen. Die Predigt zählte zu den ersten Textformen, mit denen ich als Kind konfrontiert war, der religiöse Singsang ist mir vertraut. Die Zwingli-Kanzel besteige mit ambivalenten Gefühlen. Ich bin im Berner Oberland in einem freikirchlichen, von Täufergemeinden geprägten Umfeld aufgewachsen. Zwingli war das grosse Feindbild. Sein Vermächtnis war die gemästete Berner Staatskirche mit ihren sozialdemokratischen Pfarrern, die in riesigen Pfarrhäusern residierten. Das war das stereotype Feindbild. Die Erinnerung an die Täuferverfolgung war in meiner Heimat präsent. Das Dogmatische, das Intolerante verband ich immer mit Zwingli. 

Hat sich Ihr Zwingli-Bild inzwischen etwas aufgehellt?

Bullinger steht mir weiterhin näher. Der Nachfolger von Zwingli hat versucht, die reformatorische Idee verhandelbar zu machen. Deshalb habe ich mehr Bullinger gelesen, ihn fand ich die interessantere Figur. Er ist der Typ, der hinterher aufräumt. 

Die Kanzel im Grossmünster ist ja auch die Bullinger-Kanzel.

Das wäre schon eher meine Referenz. Die zivilisatorische Leistung von Zwingli ist unbestritten, sein Einsatz gegen das Söldnerwesen zum Beispiel. Bei Bullinger kommt das Handwerk hinzu, der Wille, die Reformation in eine soziale Form zu giessen. 

Die Predigt ist nicht einfach ein Vortrag, sie ist eingebettet in eine Liturgie. Welche Ansprüche haben Sie an einen Predigttext?

Ich komme vom Theater, das grosse Ähnlichkeiten hat mit der Liturgie. In beiden Disziplinen geht es um einen Energieüberschuss. 

Nicht um Transzendenz?

Da halte ich mich zurück. In erster Linie muss ein gewisser Energieüberschuss von der Kanzel herunter in die Gemeinde fliessen. So wie auf der Theaterbühne der Funke ins Publikum überspringen muss.

Die Performance muss stimmen.

Nicht nur das. Es soll etwas geschenkt werden. Ausgegossen. Das Interessanteste am Christentum ist für mich seit jeher der Heilige Geist: die Kraft der Begeisterung. Ich möchte begeistern, daran arbeite ich. Das gilt für den Gottesdienst wie für die Kunst. Das suche ich auch, wenn ich ein Buch aufschlage: Es soll sich etwas ereignen, das zwischen mir und diesem Buch geschieht und nicht allein in mir oder allein im Buch ist. 

Da sind wir nun doch bei der Verwandlung: Die Hoffnung, dass ich das Buch in einem anderen Zustand zuklappe, als ich es aufgeschlagen habe, dass ich anders aus dem Gottesdienst hinausgehe, als ich hineingekommen bin.

Genau. Verstehen Sie Transzendenz im Sinne von Verwandlung, würde ich mitgehen. Wenn es bei der Transzendenz aber um das Jenseitige, das ganz anders Gepolte geht, bin ich nicht sicher, ob ich da einen Zugang eröffnen kann. 

Kann man denn die Seligpreisungen überhaupt lesen ohne Jenseitsbezug? 

Nein, kann man nicht. Kann man denn leben ohne Jenseitsbezug? 

Vielleicht? 

Ganz sicher nicht. Dann würde alles Menschliche wegfallen. Wir Menschen können denken. Unser Denken hört nicht am Ende unserer Existenz auf. Wir wissen, dass wir eines Tages nicht mehr da sein werden und dass es ohne unser Denken weitergeht. Und wir wissen, dass die Welt schon da war, bevor es uns gab. Im Gegensatz zu unserem Leben kennt das Denken keine Grenze. Das Transzendente gehört zu uns. Ich bin nur nicht sicher, ob es Teil der Sprache sein kann. Zwar versuche ich, meine Sprache zu erweitern, ich bezweifle aber, dass sie dadurch transzendent wird, nur der sprachliche Raum erweitert sich. Das Denken hingegen hält sich nicht an sprachliche Grenzen, es schafft Gefühle, die sich kaum in Worte fassen lassen. 

Wie stark ist Ihr literarisches Schaffen beeinflusst von der Bibel? 

Wahrscheinlich mehr als mir lieb ist. Angefangen bei der Auseinandersetzung mit der Gewalt. Das ist ein wesentlicher Teil der Bibel: Was machen wir damit? Was machen wir mit der Gewalt der Existenz, der Gewalt Gottes, der Gewalt des andern? Und gibt es einen Ausweg daraus? Das ist sowohl Inhalt der Bibel als auch Inhalt meines Werkes. Hinzu kommen die biblischen Sprechformen. Ich wünschte, ich könnte einmal so etwas Schönes schreiben wie das Hohelied. 

Was können Schriftstellerinnen und Schriftsteller lernen von biblischen Texten?

Unglaublich viel. Zum Beispiel, dass man nicht versuchen sollte, das Rätsel, das man einmal etabliert hat, zu lösen. Es soll offen bleiben, damit der Texte lebendig gehalten werden kann. Oder dass es einen Dialog braucht, nicht zwischen dem Autor und dem Text, sondern zwischen dem Text und dem Lesenden. Die Bibel sucht immer gleich einen Adressaten, sie ist nie hermetisch.