Recherche 01. Februar 2022, von Felix Reich

Die Seligpreisungen haben es in sich

Literatur

Schriftsteller Lukas Bärfuss redet über den Reflex, sich vom Elend abzuwenden, und sein negatives Bild von Zwingli. Auf dessen Kanzel wird er über die Seligpreisungen predigen.

Nur eine knappe Stunde ist vergangen, und Lukas Bärfuss hat so manchen Denkraum geöffnet. In der Eingangshalle der Zürcher Hochschule der Künste, wo der Schriftsteller unterrichtet, hat er sich für ein Interview Zeit genommen und die Seligpreisungen umkreist. Über die Stelle im Lukasevangelium predigt Bärfuss am 6. Februar im Grossmünster. Und sie hat es in sich.

Jesus preist Hungernde, Weinende, Arme selig und verspricht ihnen, dass sie satt werden, lachen, nichts weniger erben als das Reich Gottes. Freuen dürfen sich auch all jene, die verspottet werden: «Selig seid ihr, wenn euch die Menschen hassen und wenn sie euch ausschliessen, beschimpfen und euren Namen in den Dreck ziehen um des Menschensohnes willen» (Lk 6,22). 

Alle kommen zu kurz

Der Vers ist für Bärfuss «ein geniales Mittel der Propaganda». Maximal anschlussfähig. Er verweist auf Nietzsche, der das Ressentiment als ein wesentliches Merkmal der bürgerlichen Gesellschaft ausmachte. «Alle glauben, nicht das zu bekommen, was ihnen eigentlich zusteht.» 

Sich in die Opferrolle zu flüchten, ist ja schwer in Mode. So lässt sich Tennismillionär Novak Djokovic als Märtyrer verklären, wenn er in Australien keine Bälle über das Netz schlagen darf, religiös verbrämte Anspielungen inklusive.

Widerstände aushalten

Aber aufgepasst. Bärfuss liest diese Seligpreisung nicht als Freipass für mit Eitelkeit garnierte Unterlegenheitsgefühle. Er legt eine andere Spur: «Man wird nicht immer geliebt, es muss deshalb eine andere Form von Anerkennung geben.»

Den einzigen Moment, in dem nur gut über einen Menschen geredet werde, bekomme der Gelobte leider nicht mehr mit, sagt Bärfuss. Es ist die Totenrede. «Bis dahin muss du damit klarkommen, dass du Widerstände und Zweifel verursachst.»

Widerständen weicht Bärfuss nur selten aus. Mit scharfsinnigen Essays und an politische Diskurse anknüpfenden Romanen und Theaterstücken lanciert er häufig Debatten. 

Gegen den Impuls

Und wenn Bärfuss im Kontext des Ausrufs «selig ihr Armen» den Reflex erwähnt, sich vom Elend abzuwenden, weiss er, wovon er spricht. In der Jugend schlug er sich mit Gelegenheitsjobs durch, war mehrfach obdachlos.

«Wenn uns jemand anbettelt, ist es selten der Verlust von fünf Franken, der uns bekümmert, sondern die Berührung mit der Armut.» Die Angst, dass nichts von der Persönlichkeit übrig bleibt, wenn der Besitz, der Status wegfällt. Diesem Impuls der Ablehnung stelle Jesus «ein Moment der Anerkennung entgegen», indem er die Predigt an die Armen, die Ausgestossenen adressiert. «Das ist eine grosse Sache.»

Bullinger räumt auf

Aufgewachsen ist Bärfuss im Berner Oberland in einem freikirchlichen, von täuferischen Gemeinden geprägten Umfeld. Zwinglis Kanzel besteigt er deshalb mit «ambivalenten Gefühlen». Mit dem Reformator verband er das Dogmatische, das Intolerante. «Die Erinnerung an die Täuferverfolgung war in meiner Heimat präsent.»

Die Referenz ist für Bärfuss daher vielmehr Zwinglis Nachfolger Heinrich Bullinger, der die Reformation «in eine soziale Form giessen» wollte. «Er ist der Typ, der hinterher aufräumt.»

Im Gespräch wägt Bärfuss seine Worte ab, geht auf Einwände ein, lässt sich hinterfragen, misst die Resonanzräume aus, die der biblische Text zum Klingen bringt. Nur einmal ist die Antwort schnell gefunden: als er gefragt wird, ob die Bibel sein Schreiben beeinflusse. «Wahrscheinlich mehr, als mir lieb ist.» Die Gewalt der Existenz, die Gewalt Gottes, die Gewalt des andern, die Frage, ob es einen Ausweg daraus gibt: «Das ist sowohl Inhalt der Bibel als auch Inhalt meines Werks.»

Zuletzt auf die Kriterien für eine gelungene Predigt angesprochen, baut Bärfuss eine Brücke zur Kunst. Im Theater wie in der Liturgie gehe es «um einen Energieüberschuss», um Inspiration und darum, dass etwas geschenkt werde. «Ich möchte begeistern, daran arbeite ich.» Das Gespräch war bereits inspirierend. Daran, dass ihm diese Begeisterung auch auf der Kanzel gelingen wird, bestehen kaum Zweifel.