Recherche 22. Februar 2023, von Tilmann Zuber/kirchenbote-online.ch

Rita Famos: «Ich hätte das nicht für möglich gehalten»

Krieg in der Ukraine

Die Kirchen in der Schweiz rufen zum Gebet auf nach einem Jahr Krieg in der Ukraine. Rita Famos im Interview über die Zeitenwende, das Gebet und den Einsatz von Waffen.

Die Kirchen rufen Christinnen und Christen am 24. Februar zum Gebet auf? Warum?

Viele Christinnen und Christen beten schon lange für die Menschen in der Ukraine und das Ende dieses unsäglichen Krieges. Einige Gemeinden seit dem Februar 2022 in regelmässigen Friedensgebeten. Gebet schafft Gemeinschaft unter den Betenden und somit das Gefühl, in aller Ohnmacht, Verzweiflung nicht allein zu sein. Zu wissen, dass an diesem Tag viele Menschen in ganz Europa mit uns das Vaterunser beten werden, hat eine unglaubliche Kraft und schafft Verbundenheit. Wir laden auch die Geflüchteten aus der Ukraine ein, mit uns zu beten, und zeigen ihnen so, dass wir im Glauben und im Handeln verbunden sind und ihre Not uns nicht kaltlässt. Und schliesslich vertrauen wir darauf, dass Gott unser Gebet hört und uns Hoffnung und Kraft schenkt.

Wo waren Sie, als der Krieg ausbrach? Was waren Ihre Gefühle?

Ich war in Wien und war schockiert. Wie ich vor drei Jahren es nie für möglich gehalten habe, dass die Pandemie nach Europa kommt, habe ich auch damals nie geglaubt, dass Russland in der Ukraine einmarschieren würde und es in Europa Krieg geben könnte. Ich begriff gerade, wie naiv und gutgläubig ich war. Ich sah, wie sich vor dem Stephansdom die erste Mahnwache formierte. Und ich spürte, wie mich die Angst beschlich, dass dieser Konflikt uns alle betreffen könnte. Ich trat sofort in Kontakt mit der Geschäftsstelle der EKS, und wir formulierten eine Fürbitte, die wir online stellten.

Ökumenische Gebetsfeier im Berner Münster

Die Schweizer Kirchen organisieren unter der Schirmherrschaft der Arbeitsgemeinschaft christlicher Kirchen in der Schweiz (AGCK.CH) eine ökumenische Gebetsfeier am Freitag, 24. Februar, auf den Tag genau ein Jahr nach der russischen Invasion in der Ukraine. Die Feier findet ab 16 Uhr im Berner Münster statt. Auch eingeladen sind Vertreterinnen und Vertreter der ukrainischen Gemeinden in der Schweiz. Der Präsident des Nationalrates, Martin Candinas, wird ein Grusswort ausrichten.

Die Evangelisch-reformierte Kirche Schweiz (EKS) hat ihre Mitgliedkirchen über eine europaweite Initiative der ukrainischen Botschaften informiert: Am Freitag, 24. Februar, 9 Uhr, soll ergänzend zum ökumenischen Friedensgebet eine Schweigeminute für die Kriegsopfer stattfinden. Der Schweizerische Städteverband hat die Initiative positiv aufgenommen und die Kirchen angefragt, ob sie die Schweigeminute mit einem Glockengeläut unterstützen.

Der Schweigeminute um 9 Uhr geht ab 8.55 Uhr das Trauergeläut der Kirchenglocken voraus. Die Präsidien der Mitgliedkirchen der EKS haben sich für die Unterstützung der Anfrage des Städteverbands ausgesprochen. Das Glockenläuten vor der nationalen Schweigeminute für die Ukraine wird auch von der Schweizer Bischofskonferenz unterstützt.

Wie weit bedeuten der Krieg und die Friedensbewegung eine Zeitenwende?

Das Besondere an diesem Krieg ist, dass Russland völkerrechtswidrig einen souveränen, westlich ausgerichteten Staat angegriffen hat. Der vernünftige Weg, nämlich Russland einzubinden, Handelsbeziehungen zu unterhalten und einen tiefgreifenden Wandel zu ermöglichen, ist gescheitert. Russland greift seit dem ersten Tag die Zivilbevölkerung an und zerstört mutwillig die zivile Infrastruktur. Die Ukraine ist Opfer eines menschenverachtenden, brutalen Angriffs. Hier zu fordern, die Ukraine müsste Kompromisse eingehen und sich auf Friedensverhandlungen einlassen, würde bedeuten, dass sie ihre Bevölkerung einem Massaker preisgeben müsste. Das fordert die gesamte Friedensbewegung heraus, ihre Vorstellung von gewaltfreiem Widerstand zu überdenken. Ich erinnere mich daran, wie zu Beginn die ukrainische Bevölkerung sich unbewaffnet vor russische Panzer gestellt hatte. Sie hätten sie einfach umgewälzt, wären sie nicht gewichen.

Darf man sich als Christin oder Christ für den Einsatz und die Lieferung von Waffen aussprechen?

Die Frage, wer die Ukraine mit welchen Waffen unterstützen soll, muss die internationale Politik entscheiden. In der Schweiz müssten ja zunächst die Gesetze geändert werden, was zurzeit im Parlament diskutiert wird. Wichtig ist mir, dass die Ukraine Unterstützung erhält, um sich zu verteidigen und ihre Bevölkerung vor Plünderungen, Vergewaltigungen und Aushungern zu beschützen. Es ist auch aus christlicher Sicht die Pflicht von Regierungen, die Schwachen zu schützen.

Der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I. hat mit seiner Führungsriege versagt. Aber er steht nicht für die Orthodoxen Kirchen insgesamt.

Was ist die Aufgabe der Schweizer Kirche in diesem Krieg?

Zwei Dinge: erstens, wie immer unsere Guten Dienste anbieten. Das gehört zu der humanitären Tradition, die uns auszeichnet. In Zusammenarbeit mit dem Hilfswerk der Evangelischen Kirchen der Schweiz (Heks) unterstützen wir unsere Partnerkirchen in der Westukraine und in den umliegenden Ländern, damit sie Geflüchtete aufnehmen können. Zudem unterstützen wir die Kirchgemeinden in ihrem Engagement für die Geflüchteten in der Schweiz. Und zweitens ist es wichtig, dass wir uns darauf vorbereiten, der Ukraine beim Wiederaufbau zu helfen. Auch hier werden wir sicher mit unserem Hilfswerk Heks über die kirchliche Zusammenarbeit in Osteuropa aktiv werden.

Haben die Orthodoxen Kirchen, von denen ein grosser Teil treu hinter Putin steht, in diesem Krieg versagt?

Nein, das kann man pauschal so nicht sagen. Dieser Krieg hat die Orthodoxe Kirche gespalten. Der russisch-orthodoxe Patriarch Kyrill I. hat mit seiner Führungsriege versagt. Durch seine Rechtfertigung des völkerrechtswidrigen brutalen Angriffs Russlands hat er grossen Schaden für die Orthodoxe Kirche und die Christenheit verursacht. Aber er steht nicht für die Orthodoxen Kirchen insgesamt. Auch das hat dieser Krieg gezeigt.