Recherche 30. Juni 2017, von Hans Herrmann

Eine Kirche aus Bäumen und einem Blätterdach

Wichtrach

Der Openair-Boom hat auch die Kirchen erfasst. Wichtrach hat die Nase vorn: Seit gut 100 Jahren finden hier die Sommergottesdienste immer draussen statt.

Rockfestivals unter freiem Himmel gehören im Kanton Bern seit Jahren zum festen Bestandteil der sommerlichen Kulturagenda, ebenso Musicals und zahlreiche Theaterproduktionen. Auch die Kirche geht zunehmend an die frische Luft: Kaum eine Kirchgemeinde, die in der warmen Jahreszeit nicht einen Open-Air-Gottesdienst durchführt. Während verschiedene Kirchgemeinden erst in den letzten Jahren auf den Geschmack gekommen sind, hat für die Kirchgemeinde Wichtrach der Gottesdienst mitten in der Natur langjährige Tradition: Hier gibt es seit 117 Jahren die «Waldkirche». Was bedeutet, dass in den Monaten Juli und August jeder Gottesdienst im Wald stattfindet, sofern es nicht regnet.

Gefeiert wird auf einem Platz im Wald zwischen Wichtrach und Oppligen. Fix montierte Sitzplätze hats für 220 Personen. Die Gottesdienste im Deiholz, das im Volksmund den Namen «Predigtwald» trägt, sind gut besucht und ziehen auch Leute aus Nachbargemeinden an. Für die musikalische Umrahmung sorgen die Musikgesellschaften Wichtrach und Oppligen; einen Einsatz übernimmt zudem der Posaunenchor Münsingen. 2013 meinte es das Wetter besonders gut: In diesem Jahr konnte jeder Sommergottesdienst im Wald stattfinden.

Skepsis. «Unsere ‹Waldkirche› geht auf die Kirchenrenovation im Jahr 1900 zurück», sagt Pfarrer Christian Galli. Die Arbeiten waren auf den Sommer angesetzt, und so kam man in Wichtrach, Kiesen und Oppligen überein, etwa in der Mitte der drei zur Kirchgemeinde gehörigen Dörfer einen Predigtplatz unter freiem Himmel einzurichten. «Laut alten Protokollnotizen waren die Wichtracher zuerst skeptisch», erzählt Galli. Sie liessen sich dann aber doch auf das Vorhaben ein – und bereuten es nicht: Den Teilnehmenden gefiels, und die Waldgottesdienste wurden zur Tradition.Der Standort im Wald wechselte im Lauf der Jahre mehrmals, und auch sonst veränderte sich die eine und andere Gepflogenheit. So hängte man einst an zentralen Gebäuden in den drei Dörfern Fahnen auf, um zu signalisieren, dass die Predigt im Wald stattfinde. Ab Mitte der 1990er-Jahre trat der Telefondienst an die Stelle der Flaggen. Besonders nostalgisch wirkt ein Schreiben an den «Herrn Flugdirektor» des nahen Flugplatzes Belp, das der Wichtracher Kirchgemeinderat 1967 verfasste. Er fragte höflich an, ob es wohl möglich sei, «die Flugzeuge anzuweisen, auf unsere Waldgottesdienste während der genannten Stunde Rücksicht zu nehmen und eine etwas andere Fluglinie zu wählen». Tatsächlich: Der Direktor versprach, das Nötige zu veranlassen, um die Waldgottesdienste im Deiholz «nach Möglichkeit» nicht mehr durch Fluglärm zu stören.