Tag und Nacht für die Seeleute da

Seelsorge

Severin Frenzel war zehn Jahre lang Sozialdiakon in den Kirchgemeinden Opfikon und Rümlang. Dann stiess er auf ein Jobinserat der Deutschen Seemannsmission Rotterdam.  

Severin Frenzel sollte eigentlich endlich die Kisten auspacken. Sie stehen rund um den Schreibtisch herum, bedecken fast den ganzen Boden seines kleinen Büros, das mitten im Industriequartier von Hoogvliet, einer Randgemeinde Rotterdams, liegt. Einige Schachteln sind offen, darin liegen weisse Helme, Funktionsjacken in Leuchtfarben, Bibeln in Englisch, Russisch, Ukrainisch und Tagalog, einer philippinischen Sprache.  

Zwei Wochen zuvor zog die Rotterdamer Station der Deutschen Seemannsmission (DSM) aus dem Zentrum der niederländischen Stadt in die Nähe des Hafens. Ihr Leiter Severin Frenzel steht, «Gott sei Dank!», nicht mehr jeden Tag drei Stunden im Stau. 340 000 Menschen fahren jeden Morgen auf das Gelände von Europas grösstem Hafen mit einer Fläche von 100 Quadratkilometern und abends wieder zurück.

Doch auch heute werden die Kisten unausgeräumt bleiben. Frenzel, der vor zwei Jahren noch als Sozialdiakon in den Kirchgemeinden Opfikon und Rümlang arbeitete, ist lieber bei den Seeleuten als im Büro. 

Der promovierte Sozial- und Bildungswissenschaftler kümmert sich um Männer, seltener Frauen, die Tag und Nacht hart schuften und dankbar sind, dass ihnen jemand zuhört, wenn die Sehnsucht nach der Heimat zu sehr schmerzt. Und der ihnen hilft, wenn das Handy tot und der Videoanruf mit der Familie nicht möglich ist. Zeit für einen Landgang erhalten die Maschinisten, Köche und Kapitäne nur selten. Von Rotterdam, Shenzhen, Los Angeles und all den anderen grossen Hafenstädten sehen sie oft nichts ausser den vielen Kränen und Containerbergen.

Seine Währung ist die Zeit
Es ist kurz nach neun Uhr morgens, Frenzel zieht sein Handy aus der Hosentasche und wirft einen Blick auf die App «Vessel-Finder». «Die sind alle da.» Die App zeigt ihm an, welche Schiffe gerade in den Hafen einlaufen und welche wo liegen. Heute Morgen hat er die Agenten von fünf Schiffen um Erlaubnis gebeten, an Bord zu kommen, alle haben zugestimmt. Severin Frenzel stülpt sich einen Helm und eine neongelbe Jacke über und eilt zum Auto. Die Schiffe liegen nicht lange im Hafen. Im Eiltempo werden sie ent- und beladen, der Welthandel mag keine Verzögerungen in den Lieferketten.  

Nur für die Seelsorgerinnen und Seelsorger der Seefahrermissionen ist hier Zeit kein Kostenfaktor. In Rotterdam sind sie den Kirchen aus Deutschland, Dänemark, Grossbritannien, Finnland, den Niederlanden und Norwegen unterstellt. Sie sind einfach für die Seefahrer da, haben ein offenes Ohr für ihre Sorgen, bringen SIM-Karten, chauffieren sie ins Einkaufszentrum und setzen sich, wenn nötig, für bessere Arbeitsbedingungen ein. 

Rund 1,8 Millionen Menschen auf 74 000 Frachtschiffen tragen die Verantwortung für 90 Prozent des globalen Warenverkehrs. Dafür leisten sie Schwerstarbeit und verzichten während ihrer neun- oder zehnmonatigen Einsätze auf Elementares: Familie, genügend Schlaf, Natur. Die meisten stammen aus den Philippinen, Indien, Russland und Ukraine. Wer nicht Kapitän oder Offizier ist, ist noch sehr jung, zumeist zwischen 18 und 25 Jahre alt. 

Die ersten Seemannsmissionen entstanden zu Beginn des 19. Jahrhunderts in England. In den Häfen warteten damals Tausende Männer darauf, von Handelsschiffen angeheuert zu werden, oft in grosser Not, weil die Preise für die Unterkünfte überteuert waren und Vermittler viel Geld abknöpften. Pastoren begannen, die Männer zu unterstützen, und versuchten sie von Alkohol und Prostitution abzuhalten. 

1848 beschlossen auch die Kirchen am ersten Evangelischen Kirchentag in Deutschland, Matrosen vor der sittlichen Verwahrlosung zu schützen, und zwar auf der ganzen Welt. Heute ist die DSM die grösste Seemannsmission mit 33 Stationen und über 700 haupt- und ehrenamtlichen Mitarbeitenden. Anders als andere Missionen, die nur Landsleute oder Schiffe eigener Flagge betreuen, steht sie allen offen, über ein Chatportal rund um die Uhr. Notfälle wie Tod durch Suizid, Arbeitsunglücke oder Herzinfarkt gibt es immer wieder. Im vergangenen Jahr leistete die DSM in 48 Fällen sorgerische Krisenhilfe.

Lebensgefährliches Terrain 
Am City Terminal, jenem von 14 Terminals, der am nächsten bei Hoogvliet liegt, parkt Severin Frenzel sein Auto am Quai, neben dem ersten von drei riesigen Schiffen. Die «Henrike Schepers», die er besuchen will, liegt zwischen den beiden anderen Schiffen. Um hinzugelangen, muss der Seelsorger einen schmalen Weg auf dem Quai zwischen dem ersten Schiff und einem Lagerplatz mit Containern entlanglaufen. 

Doch das erste Schiff wird gerade entladen. Ein riesiger Hafenkran ist permanent in Bewegung und hebt einen Container nach dem anderen vom Schiff in die Höhe, um sie auf den Platz zu stellen.

Frenzel wartet geduldig.  «Im Hafen herrschen sehr strenge Sicherheitsvorschriften, denn der Aufenthalt hier ist lebensgefährlich», sagt er. Jährlich würden in Frachthäfen Menschen sterben. 

Überall hängen Überwachungskameras. Sie registrieren nicht nur Regelverstösse, sondern auch auffällige Personen. Der Rotterdamer Hafen ist einer der grössten Drogenumschlagplätze der Welt, von den Tonnen in Containern geschmuggelten Substanzen wissen die Seeleute indessen nichts. 

Zulassung ohne Garantie  
Da auch das Schiff auf der anderen Seite der «Henrike Schepers» direkt über der Gangway entladen wird, ist auch von dort im Moment kein Zugang möglich. Nun zu einem anderen Schiff zu fahren, ist jedoch zwecklos. «Obwohl ich Zulassungen zu den Schiffen habe: Ich habe nie die Garantie, dann auch tatsächlich hinaufzukönnen», sagt Frenzel. Er zückt das Handy, öffnet den Vessel-Finder und muss feststellen: «Das Schiff, das ich nachher aufsuchen wollte, hat schon abgelegt.» 

Als der Kran kurz stillsteht, geht der Seelsorger raschen Schrittes zur «Henrike Schepers» und betritt die wackelige Gangway. Das Schiff gehört mit seinen 121 Metern Länge und den 22 Metern Breite noch zu den kleineren Frachtschiffen. Doch im Tiefwasserterminal Rotterdam World Gateway liegen die grössten Handelsschiffe der Welt. Die «Ever Given», die 2021 im Suezkanal feststeckte, ist eines jener 400-Meter-Schiffe mit 20 000 Containern, die Frenzel regelmässig besucht. 

Der Schiffsoffizier, der beim Tor Wache hält, beobachtet den heraufkommenden Diakon aufmerksam. Frenzel ruft fröhlich: «Hello, I am from the German Seafarers’ Mission!» Der Offizier nickt, er erkennt Frenzel, die «Henrike Schepers» zirkuliert zwischen Rotterdam, Dublin und Cork und legt jeden Mittwoch hier an. Frenzel besucht sie aber nicht jede Woche. 

In den Crews arbeiten Filipinos, Inder, Russen und Ukrainer. Sie halten fest zu­­sammen. Sie wis­sen, wie man Frieden macht!
Severin Frenzel, Diakon Deutsche Seemannsmission Rotterdam

Der Offizier informiert per Bordradio, dass der «chaplain» da sei. Frenzel geht in den Turm und setzt sich in den Aufenthaltsraum. Nun heisst es warten. Ob jemand kommen wird, weiss er nicht. Keiner aus der Crew hat sich im Vorfeld gemeldet. 130 Kontakte von Seeleuten hat der Seelsorger allein auf Whatsapp, hinzu kommen Nachrichten auf den Plattformen Facebook und Threema. 

Bevor ihre Schiffe in Rotterdam einlaufen, bitten ihn die Seeleute manchmal um eine Besorgung oder ein Gespräch. So fragte ein Seemann kürzlich, ob Frenzel ihn in ein Restaurant in die Stadt fahren könne. Dort wollte er seiner Freundin, die in Holland in den Ferien war, einen Heiratsantrag machen. Frenzel lacht, als er das erzählt. «Nachts um eins holte ich ihn ab, er war überglücklich.» Regelmässige Arbeitszeiten kennt Frenzel nicht. Braucht ihn jemand, steht er bereit. 

Eine neue Welt entdeckt 
In der Seemannsmission ist Severin Frenzel gelandet, obwohl er keinen persönlichen Zugang zur Schifffahrt hatte. Während einer Recherche im Internet, um Jugendlichen in Rümlang die Arbeitsfelder der Diakonie zu zeigen, stiess er nicht nur auf Fotos der DSM, sondern auch auf ein Jobinserat. Obwohl der Deutsche mit seiner Arbeit zufrieden war und gerade das Schweizer Bürgerrecht beantragen wollte, bewarb er sich. Im Januar 2022 legte er bei der DSM Rotterdam los. Und entdeckte eine Welt, die ihn total fasziniert. 

Sein Team besteht noch aus zwei Freiwilligen des Internationalen Jugendfreiwilligendiensts. Die Schiffsbesuche sprechen sie mit anderen Missionen ab. Ihre Arbeitsorte sind auch der Seefahrerclub und die Kirche in Pernis, einem Dorf mitten im Hafengebiet. Dort finden sonntags ökumenische Gottesdienste für die Seeleute statt. Frenzel fährt mit seinem Auto jeweils sechs hin, meistens Filipinos. Manche bringt er in eine der Moscheen Rotterdams oder auch mal zu einem buddhistischen Tempel in der Stadt.

Sobald ein junger, grosser Filipino mit T-Shirt und abgeschnittenen Jeans schüchtern lächelnd den Aufenthaltsraum betritt, steht der Seelsorger auf und stellt sich vor. Der Seemann holt sich nebenan in der Küche einen Teller mit Reis und Poulet, bald kommt ein zweiter dazu. Frenzel rutscht zu ihnen an den Tisch. Auf Englisch, der Arbeitssprache in der Schifffahrt, fragt er sie, ob sie SIM-Karten benötigen. «Ein einfaches Einstiegsthema.»

Sie schütteln den Kopf. Der Diakon wagt sich weiter vor. «Wie lange seid ihr schon auf dem Schiff?» «Drei Monate.» Nein, sie seien bisher auf keinem Landgang gewesen. Der Kleinere sagt: «Ich möchte kein Geld ausgeben. Wenn ich heimkehre, heirate ich.» Er strahlt. Frenzel ruft erfreut: «Ich gratuliere!»

Die Kunst der Gelassenheit 
Dann zeigt Frenzel Fotos von Rotterdam auf seinem Handy. «Wenn ihr an Land wollt, fahre ich euch.» «Gratis?» Frenzel nickt. Beide Männer sagen, dann würden sie doch mal gern die Stadt sehen. Die Männer vereinbaren, sich vor dem nächsten Aufenthalt zu melden. 

Danach kommt niemand mehr. Frenzel geht hinaus aufs Deck und begegnet dort zwei Maschinisten. Er erkundigt sich nach ihrer Arbeit, fragt, ob sie Familie haben, verteilt Visitenkarten. Dann beschliesst er, zum nächsten Schiff zu fahren. 

Während er unterwegs erzählt, dringt immer wieder seine Liebe für die Seefahrer durch. Er sagt etwa: «In den Crews arbeiten Filipinos, Russen, Ukrainer und andere Nationen zusammen.» Sie würden zusammenhalten wie Pech und Schwefel. «Sie wissen, wie man Frieden macht!» 

Doch der Krieg in der Ukraine ist auch in der Seefahrt ein Thema. Vor einigen Monaten half Frenzel einem Mann, der nach Ablauf des Arbeitsvertrags nicht mehr nach Russland zurückkehren konnte, in den Niederlanden einen Asylantrag zu stellen. Die DSM beteiligt sich auch an der «Seafarers’ Initiative in Dutch Ports», die ukrainischen und russischen Seeleuten mit kriegsbedingten Problemen hilft. Es sind viele. 

Beim nächsten Schiff, der «Containerships 6» herrscht Wellengang, die Container sind noch nicht fixiert. Wieder ist der Zugang verboten. Severin Frenzel blickt auf seine Schiffs-App und wägt ab: schnell etwas essen gehen im Hafen-Informationszentrum? Die Kisten im Büro können warten. Die Menschen sind ihm wichtiger.