Ausnahmsweise füttert Hans Caprez die Vögel schon am Vormittag. Am Rand von Castrisch in der Surselva besitzt er ein Stück Wiese, welche früher intensiv bewirtschaftet wurde. Caprez verwandelte es mit seiner Lebenspartnerin in einen Blumen- und Gemüsegarten. Auch einen Teich gibt es. Dafür musste Caprez allerdings kämpfen, weil ein solcher gemäss den Behörden nicht in die Landwirtschaftszone gehöre. «Erst als ich Pro Natura einschaltete, lenkten sie ein.» Am Rand der Wiese baumelt an einem Gestell eine Fahne der Gletscher-Initiative. «Den Klimawandel spüren wir auch hier.» Er zeigt auf ein paar Zweige, die aus dem Schnee ragen. Pfirsichbäume, vor zwei Jahren gepflanzt. Letztes Jahr trugen sie Früchte. Ein Novum.
Im Frauenhaushalt
Akklimatisiert hat sich inzwischen auch Hans Caprez. Vor acht Jahren kehrte er aus dem Piemont, wo er vierzehn Jahre praktisch als Selbstversorger lebte, in die Bündner Berge zurück. Der frühere Journalist war und ist in seiner Heimat umstritten. Mit seinen politischen Ansichten gegen den «Bündner Politfilz», Spekulanten, Massentourismus und für die Wiederintegration des Wolfes eckt er an. Im eher links tickenden Castrisch fühlt er sich aber integriert, und hin und wieder besucht er als «reformierter Zweifler» den Gottesdienst. «Wir haben einen Pfarrer, der verständlich und aktuell predigt», sagt er und erinnert sich dabei an seinen Grossonkel Heinrich. Als Knabe habe er oft mit ihm über die Reformation und den Humanismus diskutiert. Gottesdienste besuchte er zwar wie alle im Dorf, aber an einen persönlichen Gott glaubte er nicht. «Tut blabla», habe er in Sursilvan dazu gemeint. Caprez lacht. Aufgewachsen ist Hans Caprez «in einem ausgesprochenen Frauenhaushalt», mit sechs Schwestern, Mutter und Grossmutter. Der Vater arbeitete auswärts, als Portier und später als Concierge in Bündner Hotels. Als Schüler war auch Hans Caprez im Sommer jeweils als Chasseur angestellt. «Chasseure waren in den besseren Hotels für allerlei Besorgungen für die Gäste verantwortlich. Türen öffnen, die Post bringen und die neuesten Zeitungen bereithalten». Dass er später selber einmal grosse Artikel in Zeitungen schreiben würde, davon habe er schon damals geträumt, sagt er und blickt hoch zu den Vögeln.
Rätsel ungelöst
Seine journalistische Laufbahn begann 1968 bei der «Neuen Bündner Zeitung» in Chur. Zwölf-Stunden-Tage waren keine Ausnahme. Caprez gefiel es. Er wollte den Dingen auf den Grund gehen. Einmal wurde im Lugnez ein Kind aus armer Familie vermisst. Die Polizei blieb praktisch untätig. «Halt nur ein Armeleutekind.» Sein Artikel warf hohe Wellen. Die Polizei wurde aktiv. Das Rätsel blieb ungelöst. Missstände öffentlich zu machen, unabhängig zu berichten, das schien ihm beim «Beobachter» eher möglich. Also zog er ins Unterland. Die Redaktion des «Beobachters» befand sich damals in einer alten Villa in Basel. Die Türen waren bei Caprez immer offen für alle. «Eines Tages tauchte eine jenische Frau bei uns auf und erzählte eine unglaubliche Geschichte.» Das «Hilfswerk für die Kinder der Landstrasse» der Pro Juventute habe ihr alle fünf Kinder weggenommen. Es war der Anfang einer über Jahre dauernden Recherche, bei der Caprez die Vergehen der Organisation aufdeckte: Um die Fahrenden sesshaft zu machen, steckte sie die geraubten Kinder in Pflegefamilien, sogenannt «gesundes Erdreich», Anstalten oder Gefängnisse. «Der Bund, auch Graubünden, unterstützten die Zwangsmassnahmen.» Caprez erreichte mit der Berichterstattung die Schliessung des Hilfswerks. 1987 entschuldigte sich Bundesrat Alfons Egli für das Unrecht. Es gab finanzielle Entschädigungen.Fast dreissig Jahre war Caprez beim «Beobachter» Journalist und Berater. Es gab nur einmal einen Unterbruch. Zwei Jahre besetzte er den Posten des ersten nichttheologischen Chefredaktors beim «Zürcher Kirchenboten». «Ein Fehlentscheid», meint Caprez rückblickend. Als reformierter Bündner sei er mit den hierarchischen Strukturen der Zürcher Landeskirche nie klargekommen. Artikel über die aufkommende feministische Theologie und Tierethik lösten Stürme der Entrüstung aus. Caprez kündigte.
Tote Böden
Den Umgang mit Tieren müsste seiner Meinung auch die Kirche stärker gewichten. «Diese Menschenzentriertheit der Kirche störte mich immer.» Ein Vorbild ist für ihn Albert Schweitzer mit seiner auf der Tierethik basierenden Theologie. Die Vögel sitzen noch immer in den Ästen. Caprez zeigt auf einen Schneehügel, darunter befindet sich der Kompost. «Ein Kosmos voller Geheimnisse. Ein Wunder. Bald erwacht hier ein Paradies für Blindschleichen, Springschwänze, Würmer, Mäuse, manchmal Schlangen.» Das Gegenteil der grünen Wüste daneben, «intensive Landwirtschaft mit zunehmend toten Böden. Darüber müsste man auch schreiben», sagt Caprez. Hinter ihm gibt es Bewegung. Jetzt trauen sich die Vögel ans Futter.