Recherche 09. Juli 2018, von Susanne Hochuli

Es gibt Engel unter uns – man muss sie nur finden

Kolumne

«Man weiss erst, ob man einem Engel ins Gesicht gesehen hat, wenn er wieder gegangen ist», weiss Kolumnistin Susanne Hochuli

Der Mann, stark wie eine alte ­Eiche, mit Händen gross wie Wagenräder, schmunzelt immer wieder. Am Schluss aber wischt er sich das Nass rund um seine Augen ab. Ich habe ihm sein Leben in meinen Worten erzählt. Ein Leben voller Arbeit, Lachen, Trauer, Engagement für die Men-schen, denen es schlechter ging als ihm. Dieser Mensch hat aus dem Vollen geschöpft und sein Leben reich gemacht. Verschont aber wurde er von nichts.

Einmal im Jahr darf ich etwas Besonderes tun: Ich erzähle Lebensgeschichten und bringe Menschen zum Weinen und zum Lachen. Das geht so: Die Kulturkommission meiner Gemeinde gibt mir den Auftrag, an der «Sommergmeind» eine Laudatio über eine ausgewählte Person zu halten. Es sind keine Berühmtheiten,

die an der Gemeindeversammlung geehrt werden. Es sind Menschen wie Sie und ich. Sie leben mitten unter uns, teilen unseren Alltag, unsere Sorgen und Freuden. Sie sind einfach engagierter als andere; sie setzen sich ein und damit aus und investieren viel Lebenszeit für den gesellschaftlichen Zusammenhalt. Sie haben Leichtes und Schweres erlebt, aber nie konnten ihr Wille und ihr Glaube an die Gemeinschaft gebrochen werden. Dafür werden sie geehrt, indem ihr Leben vor der Dorfgemeinschaft erzählt und damit spürbar wird.

So setze ich mich zu Leuten an den Tisch, die ich mehr oder weniger gut kenne. Ich beginne zu fragen und werde zur Chronistin: Für meinen Stift öffnen die Menschen das Buch ihrer Lebensgeschichte, suchen darin nach den Momenten, die sie zu dem gemacht haben, was sie nun sind, und legen sie vertrauensvoll vor mir auf den Tisch. Sie wissen, dass ich ihnen ihr Leben zuerst erzähle, bevor es die Dorfgemeinschaft zu hören bekommt. Wie berührend dieser Moment jeweils ist. Meine Worte reihen sich aneinander und zeichnen das Leben eines anderen nach: Der Mann, stark wie eine alte Eiche, mit Händen gross wie Wagenräder, wischte sich das Nass rund um die Augen ab. Ich machte mich auf den Heimweg. Gross und still ging der Vollmond auf und ich dachte an die jüdische Weisheit: «Man weiss erst, ob man einem Engel ins Gesicht gesehen hat, wenn er wieder gegangen ist.»