Familie – philosophisch betrachtet

Gesellschaft

Was schulden erwachsene Kinder ihren Eltern? Nichts, findet die Philosophin und «Sternstunde»-Moderatorin Barbara Bleisch in ihrem soeben erschienenen Buch.

Sie widmen Ihr Buch «Warum wir unseren Eltern nichts schulden» Ihren Eltern. Was für eine Beziehung haben Sie zu ihnen?

Barbara Bleisch: Eine gute. Mit der Arbeit an meinem Buch habe ich auch nochmals neu über unser Verhältnis nachgedacht. Für mich ist wichtig, dass ich mich nicht für meine Eltern interessiere, weil ich in ihrer Schuld stehe, sondern weil ich es will.

Sie sind der Meinung, Kinder schulden ihren Eltern nichts allein aufgrund des Umstandes, dass sie ihre Kinder sind.

Diese Idee einer Art Erbschuld gegenüber den Eltern, die wir abarbeiten müssen, finde ich falsch. Das Eltern-Kind-Verhältnis ist keine Beziehung zwischen Gläubiger und Schuldner. Man kann es ja auch umgekehrt sehen, wie Ijoma Mangold in seinem Buch «Das deutsche Krokodil»: Nicht die Kinder müssen ihren Eltern für Liebe und Fürsorge dankbar sein. Sondern zuweilen eher Eltern ihren Kindern dafür, dass sie als Objekt der Liebe hingehalten haben.

Das vierte biblische Gebot verlangt, Vater und Mutter zu ehren.

Dieses Argument bekomme ich oft zu hören. Aber in der Bibel finden sich auch andere Stellen. Etwa im Neuen Testament, als Jesus an der Hochzeit zu Kana seiner Mutter Maria sagt: «Was willst du von mir, Frau?». Jesus setzt hier seine Mutter auf dieselbe Stufe wie alle Frauen.

Was macht die Eltern-Kind-Beziehung denn so speziell?

Sie ist wie keine andere Beziehung. Wir werden in sie hineingeboren, ohne dass wir einander wählen können. Wir werden einander auch ein Leben lang nicht mehr los; es gibt Ex-Männer und Ex-Freundinnen, aber keinen Ex-Vater oder kein Ex-Kind. Zudem sind Eltern exklusiv: Man kann nicht im Erwachsenenalter neue Eltern finden – wohl aber neue Freunde. Das macht uns auf spezielle Art verletzlich. Und geht mit hohen Erwartungen einher.

Wie kann man sich von den Erwar­tungen befreien?

Erwartungen entstehen auch, weil wir die Familie oft romantisieren. Genau das tue ich in meinem Buch nicht. Denn eine Romantisierung verkennt, wie sehr Familie uns aucheinengen und bedrohen kann. Die Familienbeziehung zu klären, ist anspruchsvoll. Es ist eine lebenslange Aufgabe, die sich aber anzugehen lohnt.

Wie kann da die Philosophie helfen?

Zum einen durch Klärung: Verstehen ist oft der erste Schritt zum bes­seren Handeln. Familie philosophisch zu klären heisst, Konzepte wie Ehre, Blutsverwandtschaft, Dankbarkeit, Tradition und Identität genauer zu untersuchen. Zum anderen gibt es in der Philosophie auch die Tradition der Lebenskunst, die immer noch wenig Aufmerksamkeit erhält. Philosophie kann durchaus helfen, besser mit offenen Wunden und Enttäuschungen umzugehen.

Sie wenden sich am Ende Ihres Buches von der Ethik der Gerechtigkeit der Tugendethik zu. Warum?

Weil die Tugendethik nicht auf die Frage fokussiert, was wir einander schulden, sondern darauf, wie unser Leben glücken kann. Viele Menschen meinen, dass zu einem guten Leben auch eine geklärte Familienbeziehung gehört. Dem stimme ich zu. Aber zu einem gelungenen Leben gehört auch, dass wir uns als erwachsene Kinder selber verwirklichen können. Und das setzt ein gewisses Mass an Freiheit voraus.

Der Buchtitel irritiert. Anders als der Titel liest sich Ihr Buch als Plädoyer für die Familie.

Eine Familienbeziehung, die glückt, ist grossartig. Nicht nur, weil sie wertvoll und unersetzbar, sondern auch weil sie für die eigene Identität wichtig ist. Durch die Auseinandersetzung mit unserer Familie verstehen wir besser, wer wir sind.

Familie könne, schreiben Sie, eine Art Trainingslabor für geistige Offenheit sein.

Im Freundeskreis bewegen wir uns oft unter Gleichgesinnten. Anders in der Familie. Zu meiner Familie gehören etwa Strenggläubige und Atheisten, Rechtskonservative und pointiert Linke, Angepasste und Aussteiger. Sie eröffnen mir Lebenswelten, in denen ich mich sonst nicht bewegen würde. Familie ist also wie Nachbarschaft: Sie verursacht Reibung, greift in die Speichen der eigenen Werthaltungen und Überzeugungen und ist gerade deshalb voller Reichtum und unglaublich horizonterweiternd.

Hat das Buch den Blick auf Ihre eigenen Kinder verändert?

Ich wurde mir nochmals neu bewusst, dass ich für die Fürsorge für meine Kinder keine Gegenleistung im Alter erwarten darf. Ich hoffe, dass ich im Alter nicht auf meine Kinder angewiesen bin, sondern dass meine Kinder sich aus freien Stücken unserer Beziehung zuwenden können.

Barbara Bleisch, 45

Die Mutter von zwei Kindern moderiert die «Sternstunde Philosophie» auf SRF und hat als Dozentin für Ethik diverse Lehraufträge inne. Für das «Philosophie Magazin» schreibt sie als Kolumnistin. Ihr Buch «Warum wir unseren Eltern nichts schulden» ist im Hanser-Verlag erschienen.

Buchtaufe und Diskussion: 20. März 2018, 20 Uhr, Kaufleuten Zürich