Recherche 14. November 2022, von Christian Kaiser

Was die Glühbirne und der Kopfsalat gemeinsam haben

Diakonie

Volle Briefkästen, Werbeaktionen – die Spendensammelsaison ist angelaufen. Der Effektive Altruismus mahnt dazu, rational zu entscheiden, wohin das Geld fliessen soll.

Jetzt lauern sie einem wieder auf, an Bahnhöfen, in Gassen, auf öffentlichen Plätzen. Sie sind jung, kommunikatorisch vif, meist gar sympathisch, aber ihre Absicht ist klar: Sie wollen einem ans Portemonnaie, möglichst ans elektronische. Hauptziel ist der regelmässige Zugriff per Dauerauftrag oder Lastschriftverfahren. Gerade wieder werben die Spendenjäger für Greenpeace oder Pro Infirmis (beide in ähnlichem Grün) oder Médecins Sans Frontières. Adventsszeit ist Fundraisingzeit, man merkt es auch an den vollen Briefkästen.

2020 haben Schweizerinnen und Schweizer erstmals über zwei Milliarden Franken gespendet – und um die Stücke dieser Riesentorte buhlen viele. «Wir stehen auf der Sonnenseite des Lebens», sagt der Ethiker und Christ Dominic Roser. Mit einem Schweizer Medianlohn gehöre man zum einkommensstärksten einen Prozent auf diesem Planeten. «Dieser unglaubliche Wohlstand ist eine Superkraft, die uns das Privileg verschafft, in der Welt enorm viel Gutes zu bewirken.»

Der rationale Fragenkatalog zur Nächstenliebe

Gutes zu tun und seine Fülle und seinen Wohlstand auch zu teilen sind schlicht menschliche Grundbedürfnisse, für Christinnen und Christen gehört die Mild- und Wohltätigkeit wie in anderen Religionen seit jeher mit zur Pflicht. Den Mitmenschen in Not zu helfen, besonders Witwen, Waisen, Armen und Fremden, ist bereits im Alten Testament ein Gebot, an welches Jesus, zitiert in vier Evangelien, erinnert: «Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst» (Mk 12,31). Aber mit dem Willen zur gelebten Nächstenliebe in Form von Gutherzigkeit, Mildtätigkeit und Grosszügigkeit fangen die Fragen erst an.

Wem soll ich mein Geld spenden? Was tut die Hilfsorganisation genau? Braucht sie mehr Mittel? Wie gut führt sie ihre Projekte durch? Wie kostenwirksam arbeitet sie? Mit solchen Fragen beschäftigt sich die philosophische Schule des Effektiven Altruismus (EA): William MacAskill, Professor für Philosophie in Oxford, stellt genau diese Fragen in seinem Buch «Gutes besser tun» (2015) und fordert eindringlich dazu auf, sich damit zu beschäftigen. Der Kern der Philosophie: so viel Gutes wie möglich tun, geben, was man kann, und das Investierte (Geld, Zeit und Engagement) dorthin lenken, wo es den meisten Menschen hilft. «Sie sollten den heutigen Tag zu dem Tag machen, an dem Sie beginnen wollen, die Welt zu einem besseren Ort zu machen», schrieb MacAskill, und sein erstes Buch wurde zu einer Art Bibel des EA.

Geld ist ein Segen für das Zusammenleben und ein Mittel um zu helfen, das wissen wir seit 3000 Jahren.
Christoph Sigrist, Titulaprofessor für Diakonie, Stiftungsrat von Heks

Ein Goldstandard des Spendens für Christen?

Die Ethiker Dominic Roser und Stefan Riedener stellten fest, dass eine religiöse Perspektive in der ganzen Debatte weitgehend fehlt und wollten diese Forschungslücke schliessen. Sie haben kürzlich einen Band herausgegeben, welcher aus verschiedener Perspektive beleuchtet, was Gläubige unterschiedlicher Religionen von EA lernen können und umgekehrt. Auch der verstorbene Theologe und Ethiker Markus Huppenbauer gehört zu den Herausgebern.

Dominic Roser von der Uni Freiburg kommt in seinem Beitrag zum Schluss: «Die Grundsätze sind sowohl kompatibel mit dem Christentum als auch wichtig und nützlich für Christinnen und Christen.» Roser geht sogar so weit, den EA einen «Goldschatz für das Christentum» zu nennen (siehe Interview) und ruft dazu auf, dessen Handlungmaximen zu beherzigen: «Christen sollten altruistischer sein und mehr Gewicht darauf legen, effektiver gute Wirkungen zu erzielen.» Roser bezeichnet sich selbst als «praktizierenden Christen». Er ist methodistisch sozialisiert und gehört heute der Anglikanischen Gemeinschaft an.

Die Vordenker und Vorbilder des Effektiven Altruismus

Die Bewegung des Effektiven Altruismus ist etwas mehr als zehn Jahre alt. Entscheidend zu dieser neuen Philosophie beigetragen hat der Moralphilsoph Peter Singer mit seinem Sachbuch «The Life You Can Save» (Das Leben, das du retten kannst) von 2009. Darin verhandelt Singer die Frage, wie sich Geld möglichst effektiv spenden lässt. Die in dem Buch entwickelten Grundsätze versucht seit 2013 eine Wohltätigkeitsorganisation mit dem selben Namen konkret umzusetzen. In der Folge nahmen verschiedene Philosophen seine Ideen auf und entwickelten sie weiter, unter anderem auch der Philosph William Mac Askill, der in Oxford lehrt.

2015 schlug MacAskills Buch «Gutes besser tun» Wellen: Tech-Gurus des Silicon Valley, Kryptomilliardäre sowie philanthropisch veranlagte Superreiche wie Bill Gates oder Elon Musk bekunden ihre Sympathie zu MacAskill und geben vor, bei ihren Spenden die Grundsätze des Effektiven Altruismus zu beherzigen. So viel Gutes wie möglich zu tun, im Sinne von: zu geben, was man kann und das Investierte (in Form von Geld, Zeit, Engagement) dorthin zu lenken, wo es am meisten bringt.

Der 35-jährige schottische Philosoph verschenkt selbst einen grossen Teil seines Einkommens und hat mit «Giving What We Can» (Geben was wir können) eine Organisation mitbegründet, deren Mitglieder sich verpflichten, mindestens 10 Prozent ihres Einkommens an effektive Wohltätigkeitsorganisationen zu spenden. Auch die Idee ist nicht wirklich neu, bei Moses war das Gesetz, und der spätere christliche Zehnte lässt grüssen, dürfte aber nicht Pate gestanden haben: Rund 90 Prozent der effektiven Altruistinnen und Altruisten bezeichnen sich als nicht-religiös, agnostisch oder atheistisch, entsprechend rationalistisch-wissenschaftsfreundlich ist ihre Argumentation.

Kürzlich hat Mac Askill mit «What We Owe The Future» (Was wir der Zukunft schulden) den Betrachtungs-Horizont der Effektiven Altruistinnen und Altruisten in die langfristige Zukunft verlegt: Unsere Generation sei nicht wichtiger als die künftigen, ein heutiger Mensch zähle nicht mehr als einer, der erst noch geboren wird. Den Effektiven Altruisten geht es um nichts weniger als um die Rettung der Menschheit, und sie wollen das jetzt und schnell und mit der grösstmöglichen Hebelwirkung tun.

Bücher:

William MacAskill: Gutes Besser Tun – Wie wir mit Effektivem Altruismus die Welt verändern können. Ullstein 2016

William MacAskill: What We Owe The Future – A Million Year View. One World Publications September 2022

Peter Singer: The Life You Can Save: How to Do Your Part to End World Poverty: 10th Anniversary ed. Edition. Hsg: www.thelifeyoucansave.org / Deutsch: Peter Singer: Leben retten – Wie sich Armut abschaffen lässt - und warum wir es nicht tun. Arche Verlag, Zürich - Hamburg 2010

Effektiv zu helfen ist eine alte Kunst

Für Grossmünsterpfarrer Christoph Sigrist ist das kein neuer Gedanke: «Es gibt kein Hilfswerk, das heute nicht ökonomisch und effektiv handeln muss». Er erinnert an die von Jesus erzählte Geschichte vom barmherzigen Samariter, der zwei Denare verschenkt (Lk 10,25-36). «Die Mittel um zu helfen, sind immer begrenzt», sagt Sigrist, der im Stiftungsrat von HEKS sitzt, und an der Uni Bern Titularprofessor für Diakonie ist. Diakonie bezeichnet er als die «Kunstlehre» vom Helfen. Und die Kunst bestehe eben auch darin, sich von den besten Argumenten leiten zu lassen. «Da gibt es einige Überschneidungen in den Zielen und Denkweisen mit dem Effektiven Altruismus», sagt Sigrist.

Nächstenliebe ist wichtiger als Religionszugehörigkeit

«Geld ist ein Segen für das Zusammenleben und ein Mittel um zu helfen, das wissen wir seit 3000 Jahren.» Schon das Alte Testament weist an verschiedenen Stellen darauf hin. Trotzdem findet Sigrist den philosophisch-ethischen Zugang des EA hilfreich. Einmal sei jedes Engagement, das effektiv helfen wolle, zu begrüssen. «Die christliche Nächstenliebe ist nicht exklusiv sondern konstitutiv», sagt er.

Will heissen: Erstens dürfen und sollen alle, die Nächstenliebe praktizieren wollen, das tun. Es ist kein christliches Vorrecht, die Christen haben die Nächstenliebe nicht für sich gepachtet. «Der Wunsch helfen zu wollen ist universell, Teil der menschlichen DNA», so Sigrist, und er weist darauf hin: «Der barmherzige Samariter war kein Jude sondern ein Ungläubiger.» Und zweitens gebe es die oder den hilfsbedürftigen Nächsten eigentlich nicht: «Sondern es gilt, selber für den anderen zum Nächsten zu werden, indem man handelt, spendet.»

Am grössten ist der Effekt bei vernachlässigten Risiken

Und da kann dann der EA eben bei der praktischen Umsetzung behilflich sein. «Der Gedanke, möglichst effektiv zu helfen, ist tatsächlich nicht neu und eigentlich trivial», ergänzt Stefan Riedener vom Ethik-Zentrum der Uni Zürich. «Das Interessante am EA ist aber, dass er die Idee radikal zu Ende denkt.» Die Bewegung richte sich zum einen gegen den Egoismus (der Nicht-Helfenden), zum anderen aber auch gegen unreflektiertes Gutmenschentum: «gut gemeint, aber unwirksam oder unnütz» lässt sie nicht gelten. Stefan Riedener erläutert die Vorgehensweise der Anhänger so: «Erst einmal befasst sich der EA mit der Frage, welche Art von Problemen überhaupt sinnvollerweise angegangen werden soll.» Dafür gebe es drei Kriterien: «Das Problem muss gross sein, es muss lösbar sein und vergleichsweise vernachlässigt.»

Gross sind Probleme, die viele Lebewesen auf eine dramatische Art und Weise betreffen. Zum Beispiel Risiken, welche die Gefahr des Aussterbens der Menschheit bergen: Klimaerwärmung, ein Rückgang der Artenvielfalt, ein Nuklearkrieg, Biorisiken oder auch die Weiterentwicklung künstlicher Intelligenz. «Rund um die existenziellen Risiken wird überraschenderweise wenig geforscht», sagt Riedener. Und bei vernachlässigten Problemen ist meist der Zusatznutzen von eingesetzten Ressourcen am grössten. Das klassische Beispiel: Bei der Bekämpfung von Tropenkrankheiten wie Malaria oder Bilharziose lassen sich mit wenig Geld Ansteckungen verhindern.

Unser unglaublicher Wohlstand ist eine Superkraft, die uns das Privileg verschafft, in der Welt viel Gutes zu bewirken.
Dominic Roser, Ethiker und Christ

Wer spendet, hat Verantwortung

Wer nun weiss, bei welchen Problemen sie oder er sich engagieren möchte, kann sich bei Evaluationsstellen (sog. Meta-Charities) schlau machen, welche Institutionen und Projekte das spezifische Problem am wirksamsten bekämpfen. Die internationalen Meta-Kontrolleure haben sich auf ein Themenfeld spezialisiert: «GiveWell» etwa untersucht v.a. Interventionen bei der Armutsbekämpfung, «Animal Charity Evaluator» konzentriert sich aufs Tierwohl, «Founder's Pledge» ist Anlaufstelle für Klimaveränderung. Riedener: «Wohin das Geld am Ende geht, ist natürlich ein individueller Entscheid, aber man kann diesen verantwortungsvoller oder weniger verantwortungsvoll fällen.» Und was mit dem Geld passiere, liege schliesslich immer in der Verantwortung der Helfenden. «EA liefert einen wertvollen Referenzrahmen, um diese Verantwortung auch richtig wahrzunehmen», sagt Riedener.

Das Herz soll im Zentrum stehen

«Allerdings beschränkt sich ein ethisches Leben und Handeln sicher nicht nur auf die reine Rechnerei, wo man wie viele Leben rettet», betont Riedener. Da könne der EA von der Religion lernen; helfen als Herzensangelegenheit. Denn am Ende will auch der EA Intellekt und Herz zusammenbringen. Das Logo der Bewegung ist eine Glühbirne mit einem Herz darin. Sigrist überzeugt ein anderes Bild mehr: «Mein Vater hat mich gelehrt, dass die Diakonie ein Kopfsalat ist, weil das das einzige Gemüse ist, wo Herz und Kopf zusammenfallen.» Damit sei er auch auf der ökologischeren Seite.