Konzentriert verfolgen 22 junge Sänger des Vocalino Wettingen die fliessenden Gesten des Dirigenten David Rossel. Sorgsam gestalten sie Bögen, Phrasierungen und Akzente. Immer freitags trifft sich der Chor für zwei Projekte pro Jahr im Kapitelsaal des Klosters Wettingen zur Probe. Den Schauplatz kennen die Mitglieder in- und auswendig, da sie die Kantonsschule besucht haben. Chormusik nimmt dort eine zentrale Stellung ein. 2005 gründete der damalige Schulmusiker Stefan Müller ein semiprofessionelles, später auf fortgeschrittene Laien ausgerichtetes Ensemble. Seit zwei Jahren steht nun der 29-jährige Basler David Rossel einem Chor vor, der alte und zeitgenössische Musik pflegt und der am diesjährigen Chortreffen in Litauen mit einem dritten Platz belohnt wurde.
Erprobter Chordirigent. Der Musikwissenschaftler Rossel sprüht vor Energie, wenn er dem Chor Werke eloquent erläutert und ihn mit profunder Kenntnis und Leidenschaft mitreisst. Im Raum Basel ist er ein langjährig erprobter Chordirigent. 2015 bewarb er sich erfolgreich in Wettingen. Ihn reizte die Aufgabe, mit einem Chor zu arbeiten, der nie Nachwuchssorgen hat und Profisänger wie Daniel Pérez und Dino Lüthy auf die Weltbühnen entliess.
Im Dezember tritt das Vocalino in Wettingen und Kirchdorf mit den Werken dreier zeitgenössischer Schweizer Komponisten auf. Das Programm «Himmelsliechter» umfasst Stücke von Adolf Brunner, Gion Antoni Derungs und Ernst Pfiffner. Rossel versteht sie «als eine Aufforderung an den Chor und ans Publikum: ‹Erfrischt euch, springt ins kalte Wasser.›» Wohlig einnisten kann man sich in den Werken nicht auf den ersten Taktschlag. Dafür öffnen sich die Ohren für eine Musik, die wie beim Kirchenmusiker Pfiffner «die Dur-Moll-Tonalität reizvoll erweitert» und bei Brunner auf den Spuren der Komponisten Willy Burkhard und Hugo Distler wandelt. Brunner, so Rossel, sei ein besonderer Mensch gewesen. «Der Gründer der Radiosendung ‹Echo der Zeit› war politisch tätig und widmete sich nach seiner letzten Komposition 1971 nur noch der Philosophie.»
Suche nach Licht. Auch Derungs ist für Rossel ein Herzensanliegen: «Sein Stil erinnert an eine südländische Sprache, die Musik ist runder und dunkler, die Harmonien dennoch wärmend.» Die Musik, die von ihm zu hören sein wird, verweist auf den Tod. «Jeder Mensch muss einmal Abschied nehmen, und wir alle sind uns dessen bewusst. Manchmal ergreift mich beinahe eine tiefe Angst vor diesem Übergang, vor diesem Weggehen», sagte Derungs einmal. Ob er sich für dieses Weggehen ein Licht gewünscht hätte? Wohl nicht umsonst heisst es in den Anmerkungen zum Vocalino-Programm: «Den Menschen drängt es stets zum Lichte.» elisabeth feller