Recherche 24. August 2021, von Nadja Ehrbar

Der schnelle Weg in den Autoritarismus

Repression

Seit dem Erlass des Sicherheitsgesetzes in Hongkong gibt es mehr politische Häftlinge. Pfarrer Tobias Brandner und ein Hongkonger Theologiestudent erzählen.

Zahlreiche Freiheiten und ein hohes Mass an Autonomie sollten die Einwohner von Hongkong haben. Das hatten China und Grossbritannien 1997 vereinbart, als Hongkong, damals noch eine britische Kronkolonie, an China zurückging.  

Vorgesehen war, dass die chinesische Sonderverwaltungszone Hongkong während 50 Jahren nach dem Grundsatz «Ein Land, zwei Systeme» regiert werden sollte.

Seelsorge unter Kontrolle

Nun müssen die Bewohnerinnen und Bewohner machtlos zusehen, wie die ausgehandelten Rechte auf Meinungs-, Versammlungs- und Religionsfreiheit erodieren.  

Seit vor einem Jahr das umstrittene Sicherheitsgesetz eingeführt wurde, hat sich die Situation verschärft. «Die letzten Monate fühlten sich an, als würde sich eine schwere Hand über Hongkong legen.» Das schreibt Pfarrer Tobias Brandner in einem Rundbrief, den das Hilfswerk Mission 21 veröffentlicht hat.

Die vergangenen Monate fühlten sich an, als würde sich eine schwere Hand über Hongkong legen.
Tobais Brandner, Pfarrer in Hongkong

Der Schweizer arbeitet seit 25 Jahren als Gefängnisseelsorger sowie Hochschullehrer in Hongkong. Es sei erschreckend, wie schnell es gehen könne, dass «eine grossartige Stadt in politischen Autoritarismus abgleitet», schreibt er weiter. 

Bei seinen regelmässigen Besuchen in Gefängnissen sei er plötzlich strenger überwacht worden. Wärter hätten ihn unter dem Vorwand der sich ausbreitenden Pandemie begleitet und seien auch während der Seelsorgegespräche dabei gewesen. Die Vertraulichkeit während eines solchen Gesprächs sei jedoch sehr wichtig.  

Die Überwachung habe mittlerweile wieder nachgelassen. «Aber es ist nicht mehr wie früher», bilanziert Brandner. So muss der Pfarrer beispielsweise immer mitteilen, mit welchen Insassen er während seiner Besuche gesprochen hat.

Wegen Flagge im Gefängnis

Die Zahl der politischen Häftlinge ist wegen des neuen Sicherheitsgesetzes gestiegen. Das Gesetz ermöglicht den chinesischen Behörden ein hartes Vorgehen gegen Oppositionelle und Aktivisten, die nach Auffassung der Zentralregierung die nationale Sicherheit Chinas bedrohen. Seit es in Kraft ist, sind scho mehr als 100 Personen festgenommen worden. 60 von ihnen wurden angeklagt, unter ihnen auch Journalisten und Studierende. 

Ende Juli wurde ein Angeklagter erstmals verurteilt. Der 24-Jährige wurde des «Terrorismus» und der Anstiftung zur Abspaltung Hongkongs für schuldig befunden und muss für neun Jahre ins Gefängnis. Im Juli vergangenen Jahres war er bei Protesten angeblich absichtlich in eine Polizeisperre gefahren. Eine Flagge mit dem Slogan der Protestbewegung, «Befreit Hongkong – Revolution unserer Zeit», wurde bei ihm sichergestellt.

Das Gesetz ist sehr schwammig verfasst, die Leute sind verunsichert.
Do Chan, Theologiestudent Hongkong

Was erlaubt sei und was nicht, sei nicht mehr klar, sagt Do Chan im Gespräch mit «reformiert.». Er studiert auf dem zweiten Bildungsweg an der Universität in Hongkong Theologie. «Das Gesetz ist sehr schwammig verfasst, die Leute sind verunsichert.» Faktisch seien alle Aktivitäten der Opposition strafbar. Proteste gebe es kaum mehr. Auch der Ausbruch der Pandemie habe weiteren Widerstand erstickt. 

Der 39-Jährige ist Mitglied einer regierungskritischen Partei. Aber in  Wahrheit heisst er anders. Weil er sich vor Repressalien fürchtet, will er anonym bleiben. Er hat Freunde, die festgenommen wurden. Darunter eine Frau, die sich lediglich in der Nähe einer unerlaubten Versammlung aufgehalten hatte, oder ein Mann, der eine leere Tränengaspatrone aufgehoben hatte. Er ist zwar im Moment auf Kaution frei, wartet aber auf seine Verurteilung. 

«Die politischen Häftlinge lassen sich in zwei Gruppen aufteilen», erklärt Pfarrer Brandner. Auf der einen Seite stehen die älteren Kämpfer. Sie sind 60 Jahre alt oder mehr und müssen zusehen, wie ihr lebenslanger Kampf für ein demokratisches und offenes Hongkong im Nichts endet. Auf der anderen Seite sind die jungen Aktivisten, Teenager oder jungen Erwachsene, die 2014 ihre ganze Leidenschaft in die Demokratiebewegung Occupy Central gesteckt haben und nun ihre Träume begraben müssen.

Gefangene schämen sich

«Das schmerzt diese Menschen sehr», sagt Brandner. Er erzählt von einem frisch verheirateten Mann, der in Untersuchungshaft sitzt, eine schwangere Frau hat und sich fragt, wann er wohl sein Kind zum ersten Mal in die Arme schliessen kann. Die politischen Gefangenen seien zwar in der Bevölkerung als «die Guten» anerkannt, sagt der Theologe, «Schamgefühle haben sie aber trotzdem.» Hier helfe reden, zuhören, ein Gebet sprechen. Manchmal sei er als Seelsorger auch einfach die Brücke zur Aussenwelt. 

Obwohl sich Theologiestudent Do Chan über soziale Medien weiter gegen die Regierung ausspricht, hat er keine Angst, deswegen verhaftet zu werden. Und dies, obwohl er weiss, dass ihn die Regierung überwacht. Die Äusserungen auf Social Media sind in seinen Augen kein Protest, sondern lediglich eine freie Meinungsäusserung.  

Bereit für den Neubeginn

Chan könnte nach Grossbritannien auswandern und sich dort niederlassen, weil er vor der Rückgabe Hongkongs an China geboren wurde. London hat für solche Fälle extra ein neues Visum erschaffen. 

Do Chan will in Hongkong bleiben: «Meine Heimat ist hier.» Er habe sich darauf eingestellt, dass es mindestens 20 Jahre dauern werde, bis die Zeit für politische Reformen gekommen sei. «Es wird Leute brauchen, die mithelfen, Hongkong wiederaufzubauen», sagt er. Seinen heute siebenjährigen Sohn will er später trotzdem zum Studieren ins Ausland schicken.