"Ich lebe jetzt hier"

Chur

Seit einem Jahr feiern Eritreer ihren Gottesdienst in Chur. Die Initiantin und die Pfarrerin über die vorsichtige Annäherung zweier christlicher Kirchen.

Samstagmorgen in Chur. Vorsichtig öffne ich die Tür zur Regulakirche. Vor mir türmt sich ein Berg von Sneakers, Turnschuhen, Halbschuhen, ein einsames Paar Highheels. Barfuss oder in Socken stehen dunkelhäutige Menschen auf dem dunklen Steinboden der Regulakirche. Weisse Tücher bedecken den Kopf von Frauen, bei einigen Männern die Schultern. Von vorne singt ein Priester auf Altäthiopisch, der Kirchensprache Eritreas, die Gemeinde antwortet im Sprechgesang, ihre Arme sind ausgebreitet, die Hände offen nach oben. Die Regulakirche links gehört den Männern, rechts den Frauen, den Kindern und Kinderwagen. Jung scheinen hier alle, geschätzt zwischen 15 und 35.

«Wir können noch nicht lange in Graubünden unsere Gottesdienste feiern», sagt Azamit Berhane. Erst als vor zwei Jahren ein Eritreisch-orthodoxer Priester nach Flims zog, musste man nicht mehr zum Gottesdienst nach Zürich fahren. Einfach ist es für die junge Gemeinde trotzdem nicht. Denn am Sonntag belegen Churer Christen ihre Kirchen selbst, den eritreischen Gästen muss der Samstag zum Sonntag werden. Und weil in der protestantischen Regulakirche kein Weihrauch erlaubt ist, feiern sie ihre monatliche Messe in der katholischen Erlöserkirche.

Rücksicht. «Der Begriff Weihrauchverbot ist vielleicht nicht ganz zutreffend», sagt Pfarrerin Christina Tuor, Leiterin des Projekts offene Regulakirche. Aber für manche Reformierte sei Weihrauch «ein Stein des Anstosses», vor allem, wenn sie als Minderheit in katholisch geprägten Gebieten aufgewachsen ­seien. Diese Gefühle möchte Christina Tuor ernst nehmen. Gerade, damit sich die eritreisch-orthodoxe Gemeinde längerfristig in der Regulakirche integrieren kann, habe man Rücksicht auf kritische Stimmen in der eigenen Gemeinde genommen.

Azamit Berhane diente vier Jahre in Eritrea als Soldatin, in einem höheren Rang. Schliesslich beendeten sie und ihr Mann die unbegrenzte Militärzeit mit der Flucht nach Sudan, Russland und von dort in der Schweiz. Elf Jahre ist das jetzt her. «In Russland war es schwierig, mit dunkler Haut zu leben», sagt sie. In der Schweiz dagegen erhielten sie ein eigenes Zimmer, konnten zum Doktor gehen und besuchten Deutschkurse. «Das war eine grosse Erleichterung.» Inzwischen haben beide Asyl erhalten, Arbeit gefunden, Kinder bekommen. Sie sind wirtschaftlich selbständig und sprechen Deutsch. Azamit Berhane arbeitet als Dolmetscherin im Kontakt zu Behörden, Ämtern und Spitälern.

Realität. Azamit Berhane sei eine bemerkenswerte Person, findet Christina Tuor, «weil sie sich integriert hat und selber für die Integration arbeitet». Solche Menschen, welche die Schweizer und eritreische Kultur verbinden könnten, bräuchte es dringend. «Sie kennt die Schwierigkeiten, als dunkelhäutige Person in Chur zu leben, und sie kann mit den Ressentiments auch umgehen.» Dabei dürfe man nicht verkennen, wie schwer das Leben für Migranten sein kann. Azamit Berhane habe ihre Eltern jetzt seit elf Jahren nicht mehr gesehen und könne vermutlich aus politischen Gründen nicht an der Beerdigung eines Elternteils teilnehmen. «Das sind Realitäten, die eine Migrantin einfach wegstecken muss.»

Der Gottesdienst in der Regulakirche hat sich inzwischen zur Unterweisung gewandelt. Der Priester doziert und stellt Fragen, die Anwesenden antworten mit Gemurmel oder im Chor. Drei Stunden sind sie nun schon in der Kirche, dort wo keine Bodenheizung hinlangt, sind die Füsse kalt wie der Stein, auf dem sie stehen. Noch immer harren die Kinder aus, einige sind konzentriert wie die Erwachsenen, lange Gottesdienste gewohnt. Ihre monatliche Messe in der Erlöserkirche dauert geschlagene sechs Stunden, von morgens sieben bis mittags eins. Eigens wird für sie ein Tabot aus Zürich gebracht, eine Kopie der zehn Gebote, in Eritrea geweiht und verhüllt.

Offenheit. Für Christina Tuor passen diese Gottesdienste gut in die Churer Altstadtkirche. «Ökumene, Kontakt zu anderen Kirchen, braucht einen offenen Geist und auch eine offene Kirche», sagt sie. Man hätte die Regulakirche zur Verfügung gestellt, weil sie samstags nicht durch eigene Angebote belegt ist. «Offenheit heisst auch, dass die Kirche öffentlich ist und Leute kommen können.»

Ob es wahr sei, dass die Eritreische Gemeinde untereinander gespalten ist, will ich von Azamit Berhane wissen. Regimekritische Flüchtlinge, so berichten einzelne Schweizer Medien, seien immer häufiger mit regimefreundlichen neu zuziehenden Landsleuten konfrontiert. «Hier spürt man davon wenig», sagt Azamit Berhane, und überhaupt will sie sich nicht mit der Politik ihrer alten Heimat beschäftigen. «Ich lebe jetzt hier.» Zurück kann sie nicht, sie könnte verhaftet werden.

Die Schweiz ist ihre Heimat. Offen bleibt im Gespräch, wie die junge Generation der jetzt neu Ankommenden das sieht. «Manche machen sich keine Vorstellung davon, was Europa ist», sagt Azamit Berhane. Einige seien erstaunt, dass es hier Berge gäbe. Manche seien wenig motiviert, Deutsch zu lernen. Sie hätten daheim in der Familie gelebt, selbst nie Geld in der Hand gehabt. Sie glaubten, dass Geld in Europa einfach käme, ohne Arbeit. Dieser Kulturschock führte einige in die Depression, andere zum Umdenken.

Der Gottesdienst am Samstag in Chur, sagt Azamit Berhane, sei beruhigend für alle. Nach den drei Stunden hätten manche Migranten wieder mehr Hoffnung. «Denn wir Christen leben ja von der Hoffnung.»

Eritreisch-orthodoxe Kirche

Die Kirche gehört zu den ältesten christlichen Konfessionen der Welt. Sie baut auf historische Beziehungen zur koptischen Kir-

che, den häufig verfolgten Christen in Ägypten. In Eritrea hat

die orthodoxe Kirche rund zwei Millionen Mitglieder, was etwa vierzig Prozent der Bevölkerung ausmacht.