Recherche 25. November 2021, von Eva Mell

Ist alles nur ein Hirngespinnst?

Forschung

Welche Rolle spielt das Gehirn im Glauben an Aussersinnliches? Hat es einen Einfluss, ob wir gläubig sind oder nicht? Das wird an der Universität Zürich erforscht. 

«Hattet ihr schon eine Begegnung der dritten Art?» In einer Facebookgruppe lese ich diese Frage einer Frau. Über 100 Personen haben geantwortet. Ich lese von Schatten, die durch Wohnungsflure huschen, von Träumen, die die Geburt eines Mädchens ankündigen, von bösen Ahnungen, die tatsächlich wahr wurden. Echt? Sind es nicht Zufälle, mit Bedeutung aufgeladen?  

Ich lege das Handy zur Seite und lasse meinen Blick auf dem Lieblingsbild in meiner Wohnung ruhen: dem Gemälde einer Gebirgskette und deren Spiegelung im Wasser. Die Berge darin sehe ich schon lange nicht mehr, stattdessen Figuren, die nur zufällig bergartige Formen zu haben scheinen: den Kopf eines Elefanten, ein zorniges Gesicht, sogar ein Zifferblatt. Meine Freundin, die das Bild malte, sagt aber, das seien Zufallsmuster. 

Ich glaube weder an Gedankenübertragung, Wahrsagerei noch Begegnungen der «dritten Art». Doch ebenso kann ich fast nicht glauben, dass meine Freundin die Berge mithilfe zufällig angeordneter Striche gemalt hat. Warum sehe ich nur die Muster darin? Bin ich Menschen, die an Gedankenübertragung glauben, weil die Mutter zufällig im richtigen Moment anruft, etwa gar nicht so unähnlich? Und ist diese Überinterpretation von Zufällen vielleicht sogar eine Grundlage für religiöse Überzeugungen?  

Rechte Gehirnhälfte aktiv

Solche Fragen kann Peter Brugger beantworten. Der Zürcher Professor für Verhaltensneurologie und Neuropsychiatrie erforscht die Gehirne von Menschen, die an aussersinnliche Wahrnehmungen glauben. Menschen also, die überzeugt sind, dass es kein Zufall sein kann, wenn sie von einer Person träumen, die sie lange nicht gesehen haben, und ihr dann am nächsten Tag plötzlich im Bus begegnen.
 
In experimentellen Studien fand er heraus, dass Menschen mit einer Affinität für Paranormalität besonders offen sind für das sogenannte Bedeutungssehen: Sie sehen überdurchschnittlich oft bedeutungsvolle Bilder in Zufallsmustern. So wie ich in der gemalten Gebirgskette oder auch in Raufasertapeten. «In einer Studie mit vielen Probanden würde man tatsächlich sehen, dass Menschen, die in einer Raufasertapete Muster erkennen, eher an aussersinnliche Wahrnehmungen glauben», sagt Peter Brugger. «Sie könnten allerdings auch einfach kreative Personen sein.» 

Gemäss dem Neuropsychiater ist die rechte Gehirnhälfte von Menschen, die an Paranormales glauben, besonders aktiv. Auch die stärkere Aktivierung einer bestimmten Hirnregion könnte laut dem Forscher dazu führen. Eine solche Region ist beispielsweise der Temporallappen. Dieser ist wichtig für die Speicherung von Erinnerungen und verarbeitet Reize. Wir benötigen ihn etwa, um zu riechen, hören und sprechen. Ereigneten sich in diesem Bereich epileptische Anfälle, könne das weitreichende Folgen für das Weltbild der Betroffenen haben, so Brugger. «Manche Personen werden infolge einer solchen Temporallappenepilepsie auf einmal religiös, andere hingegen wenden sich vom Glauben ab.» So wird dem Apostel Paulus nachgesagt, er könnte durch einen epileptischen Anfall bekehrt worden sein.

Globaler Glaube

Wahrscheinlich, so erklärt es der Neuropsychiater, wird der Temporallappen bei Gläubigen stärker aktiviert als bei Nichtgläubigen. Dass der Glaube an Gott ein Hirngespinst ist, will er allerdings nicht sagen. Überhaupt sei die Erforschung eines institutionalisierten, religiösen Glaubens kompliziert und sprenge die Grenzen der Neurowissenschaften. «Beim Thema Religion spielen auch sozialpsychologische Faktoren eine grosse Rolle», sagt der Wissenschaftler, der ausschliesslich die Gehirne von Menschen, die an aussersinnliche Wahrnehmungen wie Gedankenübertragung glauben, erforscht. «Den Glauben an solche gedanklichen Verbindungen gibt es nämlich unabhängig von Religionen auf der ganzen Welt.

Peter Brugger, 64

Peter Brugger, 64

Der Professor für Verhaltensneurologie und Neuropsychiatrie glaubte lange selbst an Gedankenübertragung und Hellsehen. Als Forscher wollte er Beweise für paranormale Phänomene sammeln. Das gelang ihm nicht, er wurde zum Skeptiker. Was geblieben ist: Er sieht nach wie vor bedeutungsvolle Muster in Raufasertapeten.