Jetzt macht Ethik bereits im Kindergarten Schule

Bildung

Was ein schimmliges Joghurt mit Philosophie zu tun hat, lernen Schülerinnen und Schüler in der Ethik – neu Pflichtfach an der Volksschule.

Auf dem Fussballfeld stehen sich bärtige Männer gegenüber. Angeschrieben sind sie nicht etwa mit Shaquiri oder Frei, sondern mit Namen wie Platon und Leibniz. Es ist Donnerstagnachmittag, 15.30 Uhr. Mit der lustigen filmischen Einspielung stimmt Lehrer André Kunz seine Schülerinnen und Schüler auf Denksport und damit auf die wöchentliche Ethik-Lektion ein.

Philosophieren, Werte und Normen reflektieren und hinterfragen, Entscheidungen verantworten und begründen: Ethik ist mit der Einführung des Lehrplans 21 in Deutschschweizer Kantonen neuer Pflichtstoff an der Volksschule – genau wie Mathematik oder Deutsch.

Ethik im Kühlschrank

Heute ergründen die Fünftklässler aus der Zürcher Gemeinde Küsnacht den Satz «panta rhei». Was könnte es bedeuten, dass alles fliesst? Und warum kann man nicht zweimal in denselben Fluss steigen, wie der griechische Philosoph Heraklit einst behauptete? Solche tiefsinnigen Fra-gen sind auch Grundfragen des Lebens und der Welt. Im Lehrplan 21 ist Ethik darum als Kompetenz definiert. Wie die Kantone die Ziele erreichen, bleibt ihnen überlassen. Viele integrieren den Bereich auf der Primarstufe im grossen Sammelfach «Natur, Mensch, Gesellschaft».

Zürich hingegen weist Ethik neu explizit in der Stundentafel aus. Das Fach «Religion und Kultur» wurde um die Perspektive Ethik ergänzt und heisst für Primarschüler jetzt «Religionen, Kulturen, Ethik». Um seine Bedeutung zu unterstreichen, soll 2020/21 ein eigenes Lehrmittel vorliegen. «Schauplatz Ethik» vom Zürcher Lehrmittelverlag wird derzeit in 40 Schulklassen – darunter auch in Küsnacht – erprobt.

Neben den philosophischen Fragen finden sich im stufenübergreifenden Lehrmittel deutliche Bezüge zum Alltag. Was geschieht mit Dingen, deren Datum abgelaufen ist? So schlägt der «Schauplatz Kühlschrank» als einer von verschiedenen Schauplätzen eine Brücke zu Heraklit: Alles ist vergänglich, alles fliesst. Ein schimmliges Joghurt kann so durchaus zu einer philosophischen Betrachtung verleiten. Oder, wie Kunz sagt: «Die Kinder lernen, dass alles zusammenhängt.»

Ethik ist überall. Wenn es im Sport um Fairplay geht. Oder in der Geografie um Landnutzung. Somit ist es ein typisches Querschnittthema. Eine ausdrückliche Nennung im Stundenplan findet Eva Ebel, Professorin für Religionspädagogik am Institut Unterstrass an der PH Zürich, dennoch sinnvoll. «Damit ist garantiert, dass der in einer pluralistischen Gesellschaft wichtige Aspekt auch behandelt wird.» Das neue Lehrmittel sieht sie als wichtigen Beitrag zur Transparenz. Es wird klar, worum es geht: Nicht um die Vermittlung einer bestimmten Moralvorstellung, sondern um Kompetenzen im philosophischen Nachdenken und ethischen Urteilen. Ethik schärfe das Bewusstsein, weshalb andere aus guten Gründen die Dinge anders beurteilen.

Eva Ebel hält fest: «Zum ersten Mal existiert jetzt ein verbindlicher und auch vollständiger Lehrgang in Ethik, vom Kindergarten bis zum Ende der Oberstufe.» Selbstwahrnehmung oder Grunderfahrungen wie zum Beispiel Angst und Freundschaft gehören genauso in den Bereich der Ethik wie die grossen Fragen der Philosophie.

Das Blatt am Baum

Und wie ist es denn nun mit dem ewigen Fliessen? Lya kommt das Kursschiff «Panta Rhei» auf dem Zürichsee in den Sinn. Janis geht einen Gedanken weiter: «Wenn ein Blatt vom Baum fällt, ist es nicht mehr dasselbe, wie es noch am Baum war.» Lehrer Kunz stimmt dem Elfjährigen zu und macht deutlich, dass «gleich» eben nicht «identisch» ist.