Recherche 30. November 2015, von Heini Hofmann

Karl Aegerter findet im Engadin eine Heimat

Malerei

Er war der letzte Expressionist - Karl Aegerter aus dem Baselbiet wollte nicht schön, sondern wahr malen

In München hätte Karl Aegerter, einer der letzten Expressionisten, Karriere machen können. Doch die Stadtluft bekam dem Künstler nicht. 1924 muss Aegerter München aus gesundheitlichen Gründen verlassen. Eine Kur in den Alpen wird ihm verordnet. Aegerter fährt nach St. Moritz. Hier wendet er sich der Natur und der Landschaftsmalerei zu. Dabei werden ihm Parallelen zwischen Mensch und Natur so richtig bewusst. Die wilde Bergnatur ist für ihn ein Gleichnis menschlichen Lebens- und Überlebenskampfes. Deshalb sind nicht Blumenwiesen, Strahleberge und glitzernde Seen seine Präferenz, sondern die weglose Wildnis, tiefe Schluchten, Sturzhänge, Strudelwasser und endlose Winterhärte. Diese Motive findet Karl Aegerter in der Rheinschlucht und der Viamala, am Julier- und Albulapass, oder bei seinen Wanderungen im Engadin. Zu Fuss überquert er den Albula, arbeitet in Sils-Maria und wandert – den «Zarathustra» im Gepäck – hinauf zum Julierpass. Aber auch im Berner Oberland, im Wallis, im Urnerland, im Jura und natürlich im oberrheinischen Raum, wo er herkommt, malt er.

Frühe Not. Geboren ist Karl Aegerter am 16. März 1888 als drittes Kind einer Kleinbauernfamilie auf einem Heimetli in den Langen Erlen bei Basel. Seine Eltern waren aus dem Gotthelf-Land Emmental – mit Heimatort Röthenbach – zugezogen. Doch das Leben empfängt ihn mit Härte; noch im selben Jahr stirbt seine Mutter. Der Vater muss auf ein anderes Heimet übersiedeln; hier ertrinkt bei einer Überschwemmung seine ganze Viehhabe. Er steht vor dem Nichts; der Bub wird verkostgeldet und kommt mit sechs Jahren in ein Heim für arme Kinder. Dieser Aufenthalt prägt Karl Aegerters Jugendjahre. Soziales Mitfühlen und Handeln stehen bei ihm zeitlebens im Vordergrund.

Nach der Schulzeit verdient er sein erstes Geld als Fabrikarbeiter und kann dann eine Lehre als Dekorationsmaler absolvieren. Doch der in wirtschaftlicher Not Grossgewordene hat einen Traum: Er will, wie sein zehn Jahre älterer Bruder, Maler werden. Mit 27 Jahren reist er zu Fuss nach München und besucht beim Starnberger Malerprofessor, Heinrich Knirr, die Zeichnungsschule. An der Akademie der bildenden Künste absolviert er ein vierjähriges Studium.

Schon bald zeigt sich, dass Karl Aegerter kein L’art-pour-l’art-Künstler sein will. Kunst ist für ihn Verpflichtung zu ethischem und sozialkritischem Engagement. Was Emile Zola mit der Feder war, ist Karl Aegerter mit dem Pinsel. So sind denn Blinde und Behinderte, Kriegsgeschädigte, Verlassene und Verzweifelte, Flüchtlinge und Hungernde, Greise und Einsame die Themen seines ersten grossen Gemäldezyklus, den er «Menschen von heute» nennt.

Zwei Gleichgesinnte. 1932 heiratet Karl Aegerter die seelenverwandte Elisabeth Gerter, die sich als einfache Stickerin und spätere Rotkreuzschwester aus eigenem Antrieb zur gefragten Schriftstellerin emporgearbeitet hat. Beiden ist kein abgehobenes Schaffen im Künstlerolymp eigen, sondern Anteilnahme am wirklichen Leben und an den Sorgen der Menschen. Mehrere Reisen führen Karl Aegerter in verschiedene Länder und Städte, von Paris bis Moskau und von Berlin bis Rom. Unübersehbaren Niederschlag in seinem Schaffen findet vor allem sein Besuch unter Tag bei den Kumpeln der Kohleminen der Borinage, dem Ruhrpot von Belgien: hagere Gestalten mit dunklen, zerfurchten Gesichtern, von Silikose gezeichnet.

Hierhin begleitet ihn auch seine Frau Elisabeth. Was er in seinen Bildern festhält, beschreibt sie in einem Roman; denn für beide ist soziales Mitfühlen die verpflichtende Basis ihres Kunstschaffens. Überhaupt sind beide der Ansicht, Kunst solle nicht ein von der Realität des Lebens abgehobenes Dasein führen, sondern echte menschliche Gesinnung ins Dunkel der Zeit bringen. Er will nicht «schön», sondern «wahr» malen. Nach dem Ableben von Elisabeth Gerter heiratet Karl Aegerter noch einmal. Seine zweite Frau, Martha Buchser, kümmert sich bis über seinen eigenen Tod (1969) hinaus um sein Werk.

Politisch engagiert. Eine andere Etappe in Aegerters Lebensreise lässt ihn – vorübergehend – vom Maler zum Politiker mutieren, ebenfalls mit der Absicht, eine gerechtere Welt herbeizuführen. So setzt er sich als langjähriger Präsident der Sektion Basel der Standesorgani­sa­tion der Maler, Bildhauer und Architekten für eine soziale Besserstellung seiner Künstlerkollegen ein, ist neun Jahre Mitglied des Basler Grossen Rates und amtet als Richter.

In dieser Zeit entwickeln sich Freundschaften zu den Mitgliedern der Sozialdemokratischen Partei Walter Bringolf und Hans Peter Tschudi, der ihm später als Bundesrat schreibt: «Jedes Ihrer Bilder wirkt in seiner Art ausserordentlich packend, und desto packender, je mehr und je länger man sich darein vertieft. Das ist wahre, edle Kunst.» Der Saarbrückner Soziologieprofessor Georg Goriely nannte ihn «Maler des Humanen». «Seine Kunst ist zeitlos und immer modern, sie ist ein stets aktueller Aufruf des Menschen zur Humanität», resümiert er. Der Basler Künstlerkollege, Heinz Fiorese, charakterisiert ihn so: «Die Vertiefung in sein Werk braucht Zeit, denn es ist eigenartig, durchstösst die herkömmlichen Gesichtspunkte und ist sozusagen schwer einzuatmen», was ihm anfänglich ein Zögern in der Gefolgschaft in seine künstlerische Welt eingetragen habt. Doch das änderte sich.

Erfolg weltweit. Bereits zu Lebzeiten geniesst Karl Aegerter grosse Anerkennung, was Ausstellungen in den Kunstmuseen von Bern, Luzern, Zürich, Basel, Genf, Solothurn, Schaffhausen und Lausanne, aber auch in München, Dresden und Brüssel belegen. Das Kunstmuseum Basel besitzt einige Werke von Aegerter, andere sind in Privatbesitz. Ausserdem existieren grosse Wandgemälde. Galerieeigner Franz Rödiger ist es zu verdanken, dass das übrige Gesamtwerk (Gemälde, Holzschnitte, Zeichnungen und Skizzen), aber auch der persönliche Nachlass (Tagebücher, Briefe, Fotos und andere Personalia) jetzt in der Galerie Curtins in St. Moritz eine neue Heimat gefunden haben.

Werkschau in St. Moritz

Auf Karl Aegerters Wunsch, kam nach seinem Tod der Verkaufserlös seiner Bilder jenem Altersheim in Basel zugute, in welchem seine zweite Frau ihren letzten Lebensabschnitt verbrachte. Er sollte ihr Aufenthalt und Pflege sichern. Die Bilder erwarb der Maler, Galerist und Kunstförderer Franz Rödiger später zurück. Sie sind heute im Rahmen einer Werkschau in der Galerie Curtins in St. Moritz an der Via Stredas 5 zu sehen. Die Öffnungszeiten sind von Weihnachten bis Ostern, jeweils montags bis freitags, 16.00 bis 18.30 Uhr. Eine Besichtigung ist auf Voranmeldung auch ausserhalb der offiziellen Zeiten möglich. Weitere Originale (Bilder, Zeichnungen, Holzschnitte, Lithografien) von namhaften Künstlern wie Emil Schumacher, Lauro Bott und Wanda Guanella sind in der Galerie Curtins ebenfalls nach Voranmeldung zu sehen. Galerie Curtins, 079 431 86 63 oder www.galerie-curtins.ch