Das grosse Glück der kleinsten Gemeinde

Kirchgemeinde

Kirche Schuders im Prättigau gilt als die kleinste Kirchgemeinde der Schweiz. Die 24 Mitglieder teilen sich die Aufgaben, zum Beispiel den Mesmerdienst.

«Es war ein heisser Tag, die Sonne wird immer stärker.»

Der erste Satz aus Lia Anderfuhrens Predigt ist eine Bibelszene aus der Apostelgeschichte. Und zugleich beschreibt er gut die aktuelle Situation im Bergdorf Schuders. «Wir erleben das erste sonnige Wochenende seit Langem», sagt Markus Hitz. Er ist Präsident der Kirchgemeinde Schuders. «Deshalb sind heute mehr Menschen auf ihren Maiensässen als in der Kirche.» Hitz ist zufrieden. Denn immerhin knapp die Hälfte der 24 Kirchgemeindemitglieder besucht den Pfingstgottesdienst in der denkmalgeschützten reformierten Kirche St. Anna.

Sichere Einnahmequelle
Wer zum ersten Mal nach Schuders fährt, betet insgeheim, dass niemand ihn kreuzen möge auf der schmalen Strasse, die streckenweise den Blick ins steil abfallende Schraubachtobel freigibt. Von Schiers aus über die berühmte Salginatobel-Brücke führt sie 7,5 Kilometer und 600 Höhenmeter in zahlreichen Kehren in knapp 30 Minuten ins Dorf, das auf 1270 Metern über Meer liegt. Schuders galt bis in die Sechzigerjahre als eines der grössten aktiven Rutschgebiete in den Alpen. Mehrmals musste die Strasse neu verlegt werden. «Hier im Dorf waren die Leute mehr als anderswo aufeinander angewiesen», sagt Markus Hitz. Auch deshalb sei für die Einwohnerinnen und Einwohner die Eigenständigkeit wichtig. Bis vor rund 25 Jahren verfügte Schuders noch über eine Poststelle, einen Lebensmittelladen, zwei Gasthäuser und bis 2003 auch eine eigene Schule. Das Schulhaus war einst das Pfrundhaus, also die Amtswohnung des Dorfpfarrers. Heute findet hier der Kirchenkaffee statt. Im Pfrundhaus wurden eine Ferienwohnung und eine Erstwohnung eingebaut. «Die Mieteinnahmen helfen der Kirchgemeinde, das Defizit zu verkleinern, was wiederum wichtig ist, damit sie eigenständig bleiben kann», sagt Hitz.

«Sie fühlen sich gestärkt und ermutigt und unglaublich lebendig.»

So predigt Lia Anderfuhren. Die Gemeindepfarrerin arbeitet in Schuders zu zehn Stellenprozenten. Das ist mehr als dreimal so viel, wie einer Gemeinde dieser Grösse normalerweise zusteht. Und es ist das Minimum, das eine Gemeinde haben muss, um selbstständig zu bleiben. Bei jedem Pfarrwechsel werden die Stellenprozente basierend auf den Mitgliederzahlen neu berechnet. «Schuders ist ein absoluter Ausnahmefall», sagt Peter Wydler. Er ist Kirchenratsaktuar der Landeskirche Graubünden und für die Neubemessung der Pfarrstellen zuständig. Um der Gemeinde entgegenzukommen, habe der Kirchenrat den ihm möglichen Spielraum ausgenutzt. «Ausschlaggebend dafür war nicht zuletzt, dass die Kirchgemeinde ein aktives kirchliches Leben glaubhaft machen konnte», so Wydler.

Die Kunst des Läutens
Während in Graubünden viele grössere Kirchgemeinden über verkante Stellen im Pfarramt oder im Vorstand klagen, scheint Schuders keine solche Not zu kennen. «Unsere Grösse ist vielleicht unser Glück», sagt Markus Hitz. Denn die Aufgaben, die in der Kirchgemeinde anfallen, mitsamt Mesmerdienst, teilen sich die Mitglieder. Neben den 13 Gottesdiensten pro Jahr gibt es ein Herbstfest, eine Altjahresfeier an Silvester und das «Kirchenreisli». Nur das Glockenläuten von Hand zu Beginn und am Schluss des Gottesdienstes trauen sich nicht alle zu. Auch Claudia Tarnutzer-Meier hatte anfangs grossen Respekt davor. Heute steht sie mit ihrem Mann Urs in der Kirche und zieht mit ihm die Glockenseile. «Wichtig ist der Rhythmus. Ziehst du zu schnell, bist du sofort aus dem Takt. Das hörst du dann jahrelang von allen im Dorf», sagt sie und lacht.

Kooperation ist Tradition
Alle zwei Wochen besucht Lia Anderfuhren die Gemeindemitglieder. Niemand stört sich daran, dass die Pfarrerin nicht im Dorf wohnt, denn es war in Schuders nie Tradition. Immer schon pflegte das Dorf Kooperationen sowie Pastorationsgemeinschaften mit den Nachbargemeinden oder mit der Evangelischen Mittelschule in Schiers. Die Grösse spielt auch für die Gemeindepfarrerin eine Rolle: «Weil wir so klein sind, fühle ich hier die Gemeinschaft noch stärker.» Sie trat die Nachfolge ihrer Schwiegermutter Elisabeth Anderfuhren an. Ihr Mann, der als Pfarrer in Seewis arbeitet, übernimmt jeweils die Stellvertretung. «Für uns ist Schuders ein Glück. Wir sind auch in Seewis im Jobsharing und können so beide arbeiten», sagt Anderfuhren.

«Gott ist bei allen Menschen. Er ist da in unseren Herzen.»

Lia Anderfuhren steigt von der Kanzel und stimmt das Schlusslied an. Stefan Man, Musikstudent und Mitglied der Bündner Kammerphilharmonie, der jeden Monat von Zürich nach Schuders fährt, um den Gottesdienst an der Orgel zu begleiten, blickt zur Pfarrerin. Die beiden nicken sich zu, die Gemeinde stimmt sogleich mit ein in das Lied, das die Pfarrerin mit ihrem Sopran begleitet. Schuders ist auch kirchenmusikalisch eine Ausnahme.

Schuders im Prättigau

Bis 1925 lebten in Schuders rund 100 Personen. Heute sind es noch 35. Vier Familien führen Landwirtschaftsbe­triebe. Der Kirchgemeindepräsident Markus Hitz führt die einzige Gast­wirtschaft in Schuders, den Berggasthof Alte Post. Ausserdem ist der pensionierte Allgemeinmedi­ziner Präsident des Dorfvereins Pro Schuders.

«In Schuders waren die Menschen mehr als anderswo aufeinander angewiesen.»
Markus Hitz, Kirchgemeindepräsident