Jesus ist Jude. Was als Binsenweisheit daherkommt, war über zwei Jahrtausende hinweg keine Selbstverständlichkeit. Von dieser Auseinandersetzung erzählt der Rektor des Abraham Geiger Kollegs an der Universität Potsdam, Rabbiner Walter Homolka, in seinem Buch. Schlaglichtartig erhellt eine Episode aus der Kunstgeschichte das Problem der Christen, Jesus als Juden anzuerkennen. Als Max Liebermann sein Bild «Der zwölfjährige Jesus im Tempel» 1879 in München ausstellte, erhob sich ein Wutgeschrei in den Feuilletons. Wie konnte sich ausgerechnet ein jüdischer Maler erlauben, den Sohn Gottes, den Religionsstifter des Christentums, als den «hässlichsten, naseweisen Judenjungen» mit schwarzen Haaren darzustellen?
Religiöser Zwist um den Juden Jesus
Das Judentum von Jesus bleibt ein Aufreger. Rabbiner Walter Homolka geht der spannungsreichen Geschichte der jüdischen Herkunft Jesu nach und holt ihn zurück ins Judentum.
Als Jesus blond wurde
ass Liebermann unter dem Druck antisemitischer Hetzer den dunklen Schopf mit blonden Locken über-pinselte, wohnt eine tragische Ironie inne: Ein halbes Jahrhundert spä-ter konstruierten nazitreue Protestanten, die «Deutschen Christen», einen «arischen Jesus». Jesus ins Judentum heimzuholen, war schon im 19. Jahrhundert von grosser Bedeutung, wie Homolka mit seinem Parforceritt durch die jüdische Leben-Jesu-Forschung zeigt. Abraham Geiger (1810–1874) war einer der Ersten, der die grosse argumentative Linie vorgab: Jesus predigte die Essenz der pharisäischen Ethik und baute dabei von der Goldenen Regel bis zur Nächsten- und Feindesliebe auf der Gelehrtheit vieler pharisäischer Rabbiner seiner Zeit auf. Ein Echo christlicher Theologen blieb aus. Ihr Ausblenden jüdischer Stimmen hat mit einem antisemitischen Abwehrreflex zu tun: dem Vorwurf, dass die Juden für den Tod von Jesus verantwortlich seien. Erst die Erfahrungen der Schoa brachten den Wendepunkt. Schalom Ben-Chorin (1913–1999), Pionier des interreligiösen Dialogs, schaffte mit seinem Buch «Bruder Jesus» den Durchbruch, um Jesus von seinem Judentum her zu denken. Auch ihm war klar: Die biografisch belegbaren Spuren des Nazareners sind nur in geringer Zahl vorhanden. Aber wie Geiger verglich Ben-Chorin jüdische Quellen mit Jesus-Gleichnissen und Moralmaximen, um den jüdischen Jesus freizulegen.
Opfer statt Messias
Bei allen aufgedeckten Gemeinsamkeiten bleibt für Homolka das Trennende: «Unser Glaube lebt davon, dass wir keine Konkretisierung des nicht erfahrbaren Gottes vornehmen.» Die Menschwerdung Gottes in der Gestalt Jesu sei für Juden unvorstellbar. Der Schlusspunkt der Biografie des jüdischen Jesu ist die Kreuzigung auf Golgatha – als jüdisches Opfer, nicht als messianische Gestalt und Gottes Sohn. Konrad Schmid, Alttestamentler an der Universität Zürich, hat keine Mühe mit dieser Aussage. Was in den Evangelien geschrieben steht, sei die christologische Interpretation der urchristlichen Gemeinde. Und darin spiegele sich nicht nur das missionarische Interesse, sondern ebenso die scharfe Abgrenzung zwischen Synagoge und Kirche, zwischen Judentum und dem entstehenden Christentum. Auch die scharfe Polemik gegen die Pharisäer rühre von daher.
Der paulinische Christus
Natürlich kann Schmid als liberaler Theologe, der sich mit dem Alten Testament beschäftigt, diese Debatte unverkrampft kommentieren. Aber für die dogmenfeste Theologen wie den emeritierten Papst Benedikt XVI. nagt der jüdische Jesus an allem bisher Geglaubten. Denn je stärker der Jude Jesus in den Fokus rückt, desto mehr untergräbt dies das paulinische Dogma der Auferstehung: «Ist aber Christus nicht auferweckt worden, so ist unsere Verkündigung leer, leer auch euer Glaube» (1 Kor 15). Der jüdische Jesus, der keine neue Religion gründen wollte und laut jüdischer Exegeten auch nicht die Rolle des Messias für sich beanspruchte, nimmt dem Christentum seinen Wahrheitsanspruch. Das erklärt Josef Ratzingers Abwehrreflex dem historisch-jüdischen Jesus gegenüber. In den unterschiedlichen Resultaten der Forschung über das Leben Jesu spiegeln sich nach Ratzinger nur die Idealbilder der jeweiligen Autoren wider. Der ehemalige Pontifex konstatiert deshalb eine zu grosse Kluft zwischen dem historischen Jesus und dem «Christus des Glaubens». Für Homolka wird mit dieser Gegenüberstellung die Bedeutung des jüdischen Jesus kleingeredet, seine Herkunft erscheint nur noch als ein «kultureller Zufall». 70 Jahre jüdisch-christlicher Dialog hätten ein neues Kapitel aufgeschlagen. Das Fazit von Walter Homolka wird zum Appell: «Die Aufgabe der christlichen Theologien wird es also sein, eine Christologie zu schaffen, die ohne eine Karikatur des Judentums auskommt, seine bleibende Erwählung ernst nimmt und eine positive Einstellung zur Willensfreiheit der Menschen wertschätzen kann.»
Buchtipp:
W. Homolka: Der Jude Jesus – Eine Heimholung. Herder, 2020, 256 S., Fr. 28.90.