Recherche 23. März 2016, von Delf Bucher

Kreml und Kirche bauen das "dritte Rom"

Russland

Patriarch und Putin schmieden eine "heilige Allianz" gegen den dekadenten Westen. Orthodox sein ist Teil der russischen Identität.

Osternacht 2015: Seit Stunden steht Putin mit der Kerze in der Ehrenloge der Christus-Erlöser-Kathedrale in Moskau. Weihrauch schwebt im Kirchenschiff, Gesänge und Gebete steigen in die hohe Kuppel hoch. Seine Heiligkeit, der Patriarch von Moskau und ganz Russland, Kyrill I., begrüsst den russischen Präsidenten mit Bruderkuss. Der Patriarch verkündet Patriotisches: «Unser Volk besitzt eine grosse geistige Stärke, die weder Katastrophen noch Feinde bezwingen können.» Nach dem Kirchgang telegrafiert Putin an Kyrill: Die orthodoxe Kirche schaffe einen «Geist des Patriotismus» unter jungen Leuten. Natürlich können auch die TV-Bilder live aus der mit 5000 Personen besetzten Erlöser-Kathedrale nicht darüber hinwegtäuschen: In Russland sind die Kirchen meist so leer wie im Westen. Das ist ein Paradox, auf das der Slawist Ulrich Schmid von der Universität St. Gallen aufmerksam macht: «Jeder dritte Russe, der sich zur Orthodoxie bekennt, bezeichnet sich gleichzeitig als Atheist.» Für Schmid ist klar: Nicht Religiosität steht hinter dem Bekenntnis von 80 Prozent der Russen zur Orthodoxie, sondern ein «kulturelles und patriotisches Statement».

Auserwählt. Die patriotische Begegnung zu Ostern 2015 zeigt: Kyrill und Putin sind Weggefährten im Geiste. Sie stehen ein gegen den «aggressiven Liberalismus» des Westens, gegen dessen Sittenverfall, der sich in ihren Augen in Schwulenehen manifestiert. Das gemeinsame Programm für das Ideologiegebäude der postsowjetischen Ära lautet: Russland ist dazu auserwählt, die Wurzeln und das Erbe der Christenheit zu bewahren. Moskau ist das «dritte Rom», wie dies schon ein Mönch im 16. Jahrhundert formuliert hatte.

Nach Kyrill war es die göttliche Vorsehung, dass Putin als moralischer Erneuerer Russlands an die Macht kam. 2012, vor der Wahl zu Putins dritter Amtszeit, lobte er den Kandidaten als «Wunder Gottes». Natürlich hat sich Putin für die Wahlkampfhilfe der orthodoxen Kirche bedankt: 200 neue Kirchen wurden und werden in Moskau errichtet, Gesetze gegen die Propaganda für Homosexualität oder gegen die Verletzung religiöser Gefühle verabschiedet. Kreml und Kirche erscheinen so oft wie kommunizierende Röhren und spotten dem in der Verfassung verankerten Grundsatz, Staat und Kirche klar zu trennen. Ulrich Schmid vergleicht das mit der Türkei, die konstitutionell ebenso ein laizistischer Staat ist, aber die staatstragende Rolle des Islam stark in den Vordergrund rückt.

Gemeinsam mit dem türkischen Präsidenten Erdogan hat Putin übrigens 2015 die Grosse Moschee in Moskau eingeweiht. Darin zeigt sich ein bedeutender Unterschied zwischen den beiden Autokraten. Putin bindet auch Minderheiten wie die 20 Millionen Muslime in sein russisches Einheitsprojekt ein. Die Muslime seien der Orthodoxie näher als die katholische Kirche, hat er einmal verlauten lassen.

Beschützend. Dies bestimmte auch die Wortwahl, als Putin den Militäreinsatz zugunsten von Syrien im November 2015 befahl, wie Schmid herausstellt: «Der Militäreinsatz in Syrien wird dem heimischen Publikum vor allem als ein Kampf gegen den ‹Terrorismus› präsentiert.» Auf der anderen Seite nutzte Putin durchaus sein militärisches Eingreifen, um sich im Gegensatz zum scheinbar christlichen Nordamerika und Europa als einzigen Schutzherrn der Christen im Nahen Osten zu inszenieren. Das Echo war nicht nur bei den orientalischen Christen gross. Auch der katholische Bischof von Aleppo, Clément Jeanbart, begrüsste dies als Hoffnungszeichen.

Beim Syrieneinsatz deckt sich Putins aussenpolitische Agenda mit den kirchlichen Anliegen. Das ist im Ukrainekonflikt anders. Hier geraten die kriegerisch-expansionistischen Projekte Putins mit dem Einheitsanspruch der Kirche in Konflikt. Denn in der Ukraine wollte Kyrill die ihm zugewandten ukrainischen Gläubigen nicht verärgern. Einerseits verurteilt er nicht die aggressive Politik Putins, andererseits beliess er die orthodoxen Kirchen auf der annektierten Krim unter ukrainischer Kirchenverwaltung.

Pragmatisch. Regula Zwahlen Guth vom Ökumenischen Forum für Glauben, Religion und Gesellschaft in Ost und West (G2W) sieht die Allianz von Kreml und Kirche geprägt von Machtpragmatismus: «Beide Seiten brauchen sich, beide respektieren aber unterschiedliche Interessensphären.» Und Zwahlen nennt ein konkretes Beispiel. Als Putin zum Beten für die Gefallenen im ostukrainischen Donbas-Gebiet eine Kirche aufsuchte, machte er einen Bogen um die Kirche des Patriarchen, damit dieser nicht bei den Ukrainern aneckt. An Ostern werden Putin und Kyrill aber gemeinsam das «Gospodi Pomiluj» – «Herr erbarme Dich» anstimmen.