Recherche 31. Juli 2015, von Oliver Demont

«Das ist nahe an nationaler Gotteslästerung»

Schweizerpsalm

Lasst uns die Hymne doch künftig nur summen. Schlägt der Hymnologe Andreas Marti vor. Alles andere taugt nicht. Ein Diskussionsbeitrag zum 1. August.

Herr Marti, die Schweizerische Gemeinnützige Gesellschaft sucht mit einem Wettbewerb einen neuen Text der Nationalhymne. Was halten Sie als Hymnologe von der Idee?
Ich bin da sehr zwiespältig, auch wenn ich die gute Absicht der Stiftung nicht in Abrede stellen will. Das Problem ist: Die Resultate des Wettbewerbs sind unbrauchbar, aber genauso ist es der aktuelle Text der Nationalhymne.

Können Sie das präzisieren?
Inhaltlich wie formal findet in der aktuellen Nationalhymne eine grauenvolle Vermischung von Natur, Nation und Religion statt. Das geht heute einfach nicht mehr. Vom Geschlechterbild wollen wir gar nicht sprechen. Und wie die Religion besungen wird, das kommt nahe an nationale Gotteslästerung heran. Dann diese Überhöhung der Alpenwelt in unserer weitgehend urbanen Schweiz. Kurz: All dies zu singen ist schlichtweg idiotisch.

Dann müssten Sie doch ein glühender Verfechter eines Wettbewerbs sein, der mit dem alten Liedtext aufräumt.
Nein, weil die Resultate des Wettbewerbs mich auch nicht überzeugen. Sprachlich sind sie zum Teil hundslausig, von Poesie keine Spur. Darum tendiere ich dazu, lieber mit etwas Schlechtem weiterzufahren, das einigermassen funktioniert. Ich glaube der Zeitgeist ist schlicht nicht da, um etwas Neues, wirklich Gutes zu schaffen. Vielleicht finden wir ja in zehn Jahren etwas wirklich Gutes.Gut ist relativ.
Nein, das stimmt so nicht. Aber für eine gute Texthymne benötigt es ein dichterisches Genie, um beispielsweise den Zweckartikel der Bundesverfassung in einen poetisch sinnvollen Text umzuwandeln. Meine Erfahrung von anderen Wettwerben zeigt, dass das, was bei Lieder-Wettbewerben herauskommt, grossteils Bockmist ist. Wettbewerbe produzieren meist keine guten Lieder oder Texte.

In manchen Wettbewerbsvorschlägen wurde der explizite Gottesverweis ganz aus dem Text gekippt, bei einem ist er noch zwischen den Zeilen zu finden. Muss dieser in einer säkularen Gesellschaft raus?
Ich würde ihn aus der Hymne streichen, nicht aber aus der Verfassung. 

Warum?
Weil das zwei verschiedene Textsorten sind. Ein Verfassungstext ist etwas zum Anwenden, wir können darüber diskutieren und reflektieren. Anders bei einem Liedtext: In dem Moment, wo wir etwas feiernd singen, gibt es keine Differenzierung mehr, die diskursive Ebene entfällt. Da spielt sprachlich eine Art anderer Vollzug: Man macht, was man singt. Und von etwas, das man singt, kann man sich nicht distanzieren. Aber von etwas, das man liest, schon. 

Fazit: Wettbewerb nein, aktuelle Landeshymne nein. Was nun?
Eine auswegslose Situation. Ich schlage deshalb vor, die Hymne künftig einfach nur zu summen, das wäre das Gescheiteste. Die Spanier machen das bereits so. Letztlich ist die Hymne aber gar nicht so wichtig. Es ist, was es ist: Ein Stück, das wir für Länderspiele und Siegerehrungen benötigen.(Dieser Artikel stammt aus der Online-Kooperation von «reformiert.», «Interkantonaler Kirchenbote» und «ref.ch»)

Der Wettbewerb

Drei Liedtexte haben es ins Finale geschafft, das am 12. September im Rahmen des Eidgenössischen Volksmusikfestes in Aarau stattfindet. Live zu sehen ist das Finale  in der Sendung «Potzmusig» auf SRF 1. Danach wird der Beitrag der zuständigen Bundesbehörde vorgeschlagen – allerdings ohne bindenden Charakter. Interessant: Das Finale fällt auf ein historisch bedeutsames Datum, den eigentlichen Geburtstag der Schweiz: Am 12. September 1848 wurde nämlich mit der ersten schweizerischen Bundesverfassung der Grundstein für den modernen Schweizer Bundesstaat gelegt.

Andreas Marti, Musiker und Theologe

 

Der Musiker und Theologe Andreas Marti gilt als der profundeste Kenner der Kirchenmusik und Hymnologie in der Schweiz. Er ist Dozent an den Musikhochschulen Bern und Zürich und Titularprofessor an der Theologischen Fakultät der Universität Bern. Marti ist verheiratet, hat fünf erwachsene Kinder und sechs Enkelkinder.