Recherche 11. Mai 2021, von Sandra Hohendahl-Tesch

«Der Einzelne wird zum Organlieferanten des Staates»

Organspende

Wer seine Organe nicht spenden möchte, soll dies explizit festhalten müssen. Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle erklärt, warum die Widerspruchslösung problematisch ist.

In Zukunft sollen alle zu potentiellen Organspendern werden. Am 5. Mai hat der Nationalrat der erweiterten Widerspruchslösung zugestimmt (siehe unten). Für die Ethikerin und reformierte Theologin Ruth Baumann-Hölzle stellt diese eine «massive ethische Grenzüberschreitung» dar. «Fundamentale Rechte wie das Recht auf körperliche Integrität und auf Unversehrtheit während des Sterbeprozesses und beim Hirntod werden mit der neuen Regelung mit Füssen getreten», sagt Baumann-Hölzle. Die Widerspruchsregelung sei verfassungswidrig, da der Nutzen über die Würde gestellt werde. «Die Würde eines Menschen ist laut Verfassung aber unantastbar.»

Heute gilt in der Schweiz bei der Organspende die Zustimmungslösung: Eine Organspende kommt nur dann infrage, wenn die verstorbene Person zu Lebzeiten einer Spende zugestimmt hat. Liegt keine Willensäusserung vor, müssen die Angehörigen entscheiden. Die neue Regelung hätte laut Baumann-Hölzle einen Paradigmenwechsel weit über die Medizin hinaus zu Folge: «Das Verhältnis von Individuum und Staat wird auf den Kopf gestellt. Der Staat schützt nicht mehr die Integrität des Einzelnen, sondern der Einzelne wird zum Organlieferanten des Staates.» Mit weitreichenden Konsequenzen: Auch Blutspende oder Stammzellenspende könnten so bald zur Pflicht werden, befürchtet die Ethikerin. Sie sieht gar die Eigentumsrechte in Gefahr: «Man stelle sich vor, das Haus oder das Auto würden nach dem Tod automatisch an den Staat fallen, ausser man habe sich vor dem Tod dagegen ausgesprochen.»

Auch die Blutspende könnte so zur Pflicht werden

Spenden heisst schenken

Die Debatte rund um die Organspende ist emotional. 1500 Leute warten hierzulande auf ein lebensrettendes Organ – darunter auch Kinder. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Organspenderinnen und -spender. «Dass Organe von jemandem entnommen werden, der das möglicherweise nicht gewollt hätte, ist mir weniger wichtig als die grosse Möglichkeit, Leben zu erhalten und Leben zu retten», argumentierte auf der Seite der Befürworter etwa der FDP-Nationalrat Kurt Fluri.

Für Baumann-Hölzle ist diese Abwägung unzulässig. «Eine Spende ist ein Geschenk und per se freiwillig», sagt sie. Es hänge vom persönlichen Menschenbild und -verständnis ab, ob jemand zur Spenderin oder zum Spender werden wolle oder nicht. Dabei gehe es um zentrale Werte wie die Meinungs- und Religionsfreiheit. Man könne schliesslich von niemandem verlangen, dass er sich opfere. «Nimmt man in Kauf, dass man unter Umständen Organe gegen den Willen entnehmen darf, so begeht der Staat faktisch – wenn auch nicht absichtlich – einen Diebstahl.»

Hohes Diskriminierungspotential

Das Schicksal einer ihr bekannten jungen Frau mit einem Spenderherz verfolgt Baumann-Hölzle aus nächster Nähe. Bei allem Verständnis für die Betroffenen: Das Leiden des Einzelnen dürfe nicht über die das in den Menschenrechten verankerte Abwehrrecht jedes Menschen gestellt werden. «Mit dem tragischen Einzelfall lassen sich immer Grenzüberschreitungen anstossen», sagt die Institutsleiterin bei der Stiftung Dialog Ethik. Man denke etwa an Folter – auch diese wäre dann in gewissen Fällen gerechtfertigt, vielleicht bei einem Kinderschänder. Diese Logik widerspreche aber klar dem Verständnis von Rechtsstaat.

Ausserdem berge die Widerspruchsregelung hohes Diskriminierungspotential: Zum Beispiel in Bezug auf Menschen mit Beeinträchtigungen, die nicht urteilsfähig sind oder auf Menschen, die sich aus anderen Gründen nicht mit der Organspende beschäftigen können oder wollen. Schweigen bedeute nicht automatisch Zustimmung – ansonsten könnte man dies etwa auch bei Volksabstimmungen anwenden, was unabsehbare Folgen für den demokratischen Rechtsstaat hätte, gibt sie zu bedenken.

Schweigen bedeutet nicht automatisch Zustimmung

Recht auf Palliative Care

Ethisch umstritten ist auch der Zeitpunkt der Organentnahme. Zentrales Kriterium hierfür ist der Hirntod. Allerdings gibt es auch Entnahmen, die voraussetzen, dass man bereits beim noch nicht hirntoten Menschen gewisse vorbereitende Massnahmen ergreifen muss. Bereits fünf Minuten nach dem eingetretenen Hirntod aufgrund des Abstellens der lebenserhaltenden Massnahmen wird mit der Organentnahme begonnen. «Der Anspruch jedes Menschen auf Palliative Care wird damit nicht respektiert und auch das Abschiednehmen findet dann unter ganz anderen Vorzeichen statt.» 

Von der Landeskirche erwartet die reformierte Theologin in dieser Frage eine klare Positionierung. Die Kirche solle sich aktiv in den politischen Prozess einmischen, fordert sie. «Es kann nicht sein, dass diese Grenzüberschreitung in Kauf genommen wird.» Denn mit dem christlichen Menschenbild – das mit der Würde des Menschen untrennbar verbunden ist – sei die Widerspruchslösung in keiner Weise zu vereinen. Stattdessen solle die Kirche die direkte Zustimmungsregelung oder Erklärungsregelung fördern und unterstützen. Letztere wird von der Nationalen Ethikkommission favorisiert. Sie sieht vor, dass Personen regelmässig aufgefordert werden, sich mit dem Thema der Organspende zu beschäftigen und allenfalls zu einer Erklärung verpflichtet werden.

Ständerat ist am Zug

Wer nach seinem Tod keine Organe spenden möchte, soll dies in Zukunft explizit festhalten müssen. Angehörige sollen aber eine Organspende ablehnen können. Mit 150 zu 34 Stimmen bei 4 Enthaltungen stimmte der Nationalrat am 5. Mai als Erstrat der erweiterten Widerspruchslösung zu. Es handelt sich dabei um den indirekten Gegenvorschlag des Bundesrats zur Volksinitiative «Organspende fördern – Leben retten», die am 22. März 2019 eingereicht wurde. Diese fordert ebenfalls die Einführung einer Widerspruchslösung, ohne aber die Rechte der Angehörigen explizit zu regeln. Als nächstes ist der Ständerat am Zug, der sich im Laufe des Jahres zur Vorlage und zur Initiative äussern wird.