Moderne Zeitgenossen bezweifeln oft, dass die Berichte der Bibel wahr sind.
Damit beschränkt man die biblische Wahrheit auf Tatsachenberichte. Man fragt: Ging Jesus von A nach B oder hat Moses das Meer geteilt? Die biblischen Texte sprechen von einer viel grundlegenderen Wahrheit. Theologen wie
Rudolf Bultmann haben mythologische Elemente der Bibel existenziell
interpretiert und danach gefragt, welche existentiellen Fragen hinter
diesen Texten stehen. Etwa: Wie werden wir frei, wenn wir an Gott
glauben?
Spricht die Bibel von einer anderen Wirklichkeit als die Naturwissenschaften?
Wenn die Bibel erzählt, wie Jesus auf dem Wasser geht, dann beschreibt sie
ja nicht, wie das möglich ist, sondern berichtet, wie Jesus gelebt hat
und zu welchem Leben er uns einlädt. Wenn man sich bei der Frage
aufhält, ob etwas wirklich geschehen ist oder nicht, verstellt dies den
Blick auf das Eigentliche der Texte. Bultmann wollte, dass die Menschen, die nicht in der Antike leben und nicht an Engel und Dämonen glauben,
trotzdem etwas mit den biblischen Texten anfangen können. Er hat die
biblischen Wahrheiten neu freigelegt.
Biblische Texte sprechen also in unser Leben?
Ja, aber das fühlt sich nicht nur kuschelig an und tut nicht nur gut. Die
Bibel kann uns mit ihren Anfragen herausfordern. Nur schon, wenn sie
mich fragt, worauf ich mich in meinem Leben verlasse.
Stehen Naturwissenschaften und Bibel im Widerspruch?
Die Bibel ist kein naturwissenschaftliches Lehrbuch, auch wenn sie
naturkundliche Einsichten der damaligen Zeit enthält. Bibel und
Naturwissenschaften haben zwei verschiedene Perspektiven auf die Welt:
Die Naturwissenschaften beschreiben die weltlichen Kausalzusammenhänge,
die biblischen Texte gehen der Frage nach, wie ich mich in dieser Welt
verstehe.
Was antworten Sie jemandem, der behauptet, das biblische Wort stamme von Gott, und er
lehne die naturwissenschaftliche Erklärung der Entstehung der Erde ab?
Das ist schwierig. Ich würde ihn fragen, wie er dies meint. Glaubt er, dass Gott die Texte diktiert hat und diese deshalb irrtumslos sind? Ich
hatte diesbezüglich ein Schlüsselerlebnis: Als ich im Studium zum ersten Mal den griechischen Urtext des Neuen Testamentes mit all den Fussnoten sah, realisierte ich, wie viele unterschiedliche Versionen der Verse es gibt, die sich nicht selten widersprechen.
Mit Verlaub: Die Bibel ist doch mehr als Menschenwerk. Wie kommt da Gott ins Spiel?
Karl Barth hat mir da sehr geholfen, wenn er erklärt: In Jesus von Nazareth
spricht Gott von sich selber, alles andere, auch die Bibel, ist nur
Zeugnis von diesem Reden Gottes von sich selbst. Wenn Menschen die Bibel lesen, machen sie die Erfahrung, dass die menschlichen Worte, die von
Gott zeugen, sie ansprechen. Die Bibel ist Wort Gottes, weil Menschen
davon existenziell berührt werden. So steht der biblische Text mir
gegenüber als etwas, was mich ins Leben ruft, und nicht als Gesetzbuch,
auf dem ich beharren kann.
Heute gibt es die verschiedensten Lesarten, angefangen bei der
psychoanalytischen über die feministische bis zur
befreiungstheologischen. Sind alle berechtigt?Immer dann, wenn sie helfen, etwas von der biblischen Botschaft der Freiheit zu erfahren.
Welchen Ansatz finden Sie besonders lohnenswert?
Eugen Drewermanns Art, mit der Bibel umzugehen, spricht mich sehr an. Er
versteht die Texte als persönliche Befreiungsgeschichten von Menschen.
Die Befreiungstheologie, welche die soziale Ungerechtigkeit vor dem
Hintergrund der Bibel anprangert, hat in Westeuropa einen schwierigen
Stand.
Ja, für viele im Westen ist dieser Ansatz, der auf soziale Gerechtigkeit pocht, zu provokativ.
Sie sind nicht nur Theologieprofessorin, sondern auch Kirchgängerin. Kann die Predigt Glauben vermitteln?
Ich würde nicht vom Vermitteln des Glaubens reden. Es geht eher um eine
Einladung zum Glauben und Leben mit Gott in seinen ganz
unterschiedlichen Aspekten, seien sie individuell oder sozial.
Zum Schluss: Welches ist Ihre Lieblingsgestalt in der Bibel?
Besonders spannend finde ich den Kampf von Jakob am Jabbok im Alten Testament.
Jakob ringt mit jemandem und erklärt: Ich lasse nicht ab von dir, es sei denn, du segnest mich. Später berichtet er, er habe da Gott ins
Angesicht geschaut. Der Text ermutigt mich, mit Gott zu kämpfen und ihn
auf sein Gutsein zu behaften.
Wie meinen Sie das?
Wir dürfen mit Gott ringen, ihn darauf behaften, dass er uns gezeigt hat,
wie gut und treu er ist, und dass wir mehr von seiner lebensförderlichen Nähe haben möchten.
Welche Bibelstelle ist oder war für Ihr Leben wichtig?
Mein Konfirmationsspruch Psalm 27,1. «Der Herr ist mein Licht und mein Heil, vor wem sollte ich mich fürchten? Der Herr ist meines Lebens Kraft, vor wem sollte es mir grauen?» Es ist gar nicht so einfach, in dieser
Haltung zu leben. Ich übe noch.