«Eine Viertelstunde Stille hilft gegen Einsamkeit»

Seelsorge

Die Theologieprofessorin Isabelle Noth erklärt, warum Einsamkeit krank machen kann und wie eine seelsorgerliche Kirche einsamen Menschen helfen kann.

Wann fühlen Sie sich einsam?
Isabelle Noth: Wenn ich mich in einer Menschengruppe ausgeschlossen oder nicht dazugehörig fühle.

Man braucht nicht allein zu sein, um sich einsam zu fühlen? 
Einsamkeit ist ein Gefühl, das auch mit früheren Erfahrungen und subjektiven Bewertungen zusammenhängt. Aus dem Alleinsein kann ich ausbrechen, indem ich mich unter Menschen mische. Das bedeutet aber nicht, der Einsamkeit zu entkommen. Nicht jeder, der alleine ist, fühlt sich einsam. Und nicht jede Einsame ist alleine. 

Wieso widerstrebt die Einsamkeit uns Menschen derart?
Wir Menschen sind soziale Wesen. Wir können uns weder selber gebären, noch hätten wir ohne andere je überlebt. Bindungen zu unseren Mitmenschen gehören zu unseren Grundbedürfnissen. Aus der Entwicklungspsychologie wissen wir, wie entscheidend frühe Beziehungserfahrungen und ihre Bindungsqualitäten für uns sind.
 
Sie beschäftigen sich seit Langem mit der Einsamkeit. Wie beobachten Sie die Entwicklung?
Man möchte meinen, in einer rundum vernetzten Gesellschaft sei es gar nicht möglich, sich einsam zu fühlen. Dabei fällt aber auf, dass eine beträchtliche Zahl von Menschen an psychischen Störungen leiden: Gemäss Statistiken wird jede zweite Person in der Schweiz  im Verlauf ihres Lebens einmal von einer solchen betroffen. Psychische Störungen gehen oftmals auch mit Isolation und Einsamkeit einher.

Worauf führen Sie das zurück?
Es gibt nicht den einen Grund – wie etwa soziale Medien und Digitalisierung –, der auf alle Menschen anwendbar ist. Aber sicher haben neue Technologien einen Einfluss auf unser Selbstempfinden, da sie ja auch unser Verhalten beeinflussen. Hinzu kommt: Sich einsam zu fühlen, passt nicht zu den aktuellen gesellschaftlichen Bildern eines erfolgreichen Lebens. Genau wie Depression und Angstzustände ist Einsamkeit ein Thema, das schambesetzt ist, weshalb viele lieber nicht darüber sprechen. 

Welche weiteren Faktoren verursachen das Gefühl der Einsamkeit?
Krankheit, Trennung, Arbeitslosigkeit und Armut können eine Rolle spielen. Wenn sich eine Person aus Geldnot nicht am kulturellen Leben beteiligen kann, dann befördert das die soziale Isolation.

Hat das Einsamkeitsgefühl auch positive Seiten?
Genauso wie die Angst ist das Gefühl der Einsamkeit ein Alarmzeichen, das wir Menschen brauchen. Es warnt uns, dass die momentane Situation nicht in Ordnung ist. Beim Einsamkeitsgefühl spielt die Evolutionsbiologie mit hinein: Alleine könnten wir nicht überleben.

Die einen suchen die Einsamkeit, die anderen macht sie krank.
Der amerikanische Neurowissenschaftler John T. Cacioppo belegte mit seiner Forschung, dass sich soziale Isolation biologisch negativ auf unseren Körper auswirkt. Sie ist dann gesundheitsschädlich, wenn sie über längere Zeit andauert. Denn sie erzeugt Stress, und chronischer Stress schadet Körper und Seele. Wenn die Einsamkeit nicht selbst gewählt ist und lange andauert, kann sie krank machen.

Der deutsche Psychiater Manfred Spitzer sagt, Einsamkeit sei die Todesursache Nummer eins in den westlichen Ländern. Forscher kritisieren ihn, dass er Zusammenhänge kausal interpretiere.
Ja, das tut Spitzer. Seine Aussagen wollen provozieren und sind mit Vorsicht zu geniessen. Es gibt auch andere Faktoren, die zu Gesundheitsrisiken beitragen. Aber die Forschung, auf die er sich bezieht, ist grossteils empirisch solide.

England hat seit letztem Jahr eine Ministerin für Einsamkeit. Braucht es das auch in der Schweiz?
Man kann nicht zuerst das Sozialsystem schwächen und Menschen isolieren und dann Einsamkeitsministerien gründen. Ich sage das bewusst auch im Hinblick auf die aktuelle Diskussion in der Schweiz. Was die Kirchen betrifft, so sind sie mit ihrem flächendeckenden Netzwerk und ihrer Komm- und Gehstruktur sowohl enorm starke Institutionen zur Gemeinschaftsförderung als auch glaubwürdige Akteurinnen gegen Einsamkeit und für soziale Gerechtigkeit.

Manchmal fühlt man sich aber am Sonntagmorgen im Gottesdienst ganz schön einsam.
Überspitzt formuliert: Schweizer suchen am Sonntag im Gottesdienst ihre Ruhe, während Amerikaner den Gottesdienst besuchen, weil sie nicht alleine sein wollen. Der Gemeinschaftsaspekt kann im Gottesdienst, in der Seelsorge und im kirchlichen Unterricht konsequent in den Fokus gerückt werden. 

Braucht es neue Formen, um Menschen für Kirche zu mobilisieren?
Ja, denn die Kirchen sind inhaltlich und strukturell geradezu prädestiniert dafür, Teilhabe von Menschen zu befördern und Einsamkeitsgefühlen entgegenzuwirken. Ich bin überzeugt, eine Kirche der Zukunft muss eine seelsorgliche Kirche sein. Eine Kirche, die verstärkt auf das Zwischenmenschliche und Emotionale fokussiert.

Was kann die Seelsorge bewirken?
Menschen reagieren empfänglich auf Besuche von Pfarrerinnen und Pfarrern. Diese wiederum zeigen, dass sie sich für das Gegenüber interessieren und Anteil nehmen. Eine seelsorgliche Begleitung über längere Zeit kann für einsame Menschen auch eine Stütze sein, um der Abwärtsspirale  zu entkommen.

Fühlen sich religiöse Menschen weniger einsam?
Es gehört zu den Grundanliegen von Religion, das Gefühl der Zugehörigkeit einzuüben. Sich stärker mit Gott, dem Göttlichen oder einem grossen Ganzen, den Mitmenschen, den Tieren und der Natur insgesamt verbunden zu fühlen, hilft gegen Einsamkeit. Von daher sind lebensdienliche Religiosität und Spiritualität wirksame Gegenmittel bei Einsamkeit. Interessant ist jedoch, dass Menschen gleichzeitig bewusst das Alleinsein beziehungsweise die Einsamkeit für ihre spirituelle Praxis suchen, um die Verbundenheit mit dem grossen Ganzen zu finden. Diese Praxis fehlt uns oft im Alltag.

Was können wir im Alltag tun, um gegen Einsamkeit vorzugehen?
Fünfzehn Minuten Stille im Alltag einplanen, das bewirkt schon viel. Egal ob man in dieser Auszeit ein Gedicht aufsagt, ein Mantra rezitiert oder einen Bibeltext liest oder einfach schweigt. Der Fokus auf einen religiös-spirituellen Inhalt hilft bei der Wahrnehmung, in etwas Grösseres eingebunden zu sein. Im öffentlichen Raum können wir öfters wieder das Smartphone wegstecken und mit Mitmenschen bewusst interagieren. Meine Mitmenschen anzuschauen und wahrzunehmen, empfinde ich als eine minimale Wertschätzung ihnen gegenüber. Auch das beugt Einsamkeit vor.

Ein Ministerium für Einsamkeit

Seit 2002 fühlen sich Schweizerinnen und Schweizer in der Tendenz leicht einsamer. Das bestätigen die neusten Zahlen der Schweizer Gesundheits­befragung. Ein Drittel der Schweizer Be­völkerung fühlt sich manchmal ein-
sam. Knapp fünf Prozent leiden ziemlich bis sehr häufig unter Einsamkeit. Die repräsentative Umfrage zeigt, dass Frauen über die Jahre stärker von Einsamkeitsgefühlen betroffen sind als Männer. So auch Personen, die unter psychischen Belastungen leiden. Forschungen belegen die negativen Auswirkungen von sozialer Isolation auf die Lebenserwartung und Krank­heitsrisiken. Auch ist ein Zusammenhang von Einsamkeit und sozialem Kapital erkennbar: Bürger, die unter Ein­samkeit leiden, sind weniger zu ko­ordinierten Anstrengungen im Dienste einer Gesellschaft motiviert. Als Reaktion auf eine Studie, die zeigte, dass sich in England jeder fünfte Bürger einsam fühlt, ernannte die britische Premierministerin 2018 eine Ministerin für Einsamkeit.