Erstaunt bleiben zwei Studenten stehen. Sie haben die junge Frau mit Kopftuch erblickt, die vor einem Bildschirm steht und über Kopfhörer einer Nonne lauscht. Auch andere Passanten drehen sich um. Die Ausstellung «Schleier» im Campus Brugg-Windisch der Fachhochschule Nordwestscheiz erregt weniger Aufsehen als die verschleierte Frau, die sie sich gerade anschaut. Kaum einer liest die Infotafeln zur Kulturgeschichte eines Stück Stoffs, das Politiker regelmässig im Namen der Gleichstellung aus der Welt schaffen wollen. Politiker, die Genderthemen ansonsten mit gezückten Pistolen gegenüberstehen.
Nahla Ibrahim, die Frau, die der Nonne zuhört, kennt die Kopftuchdebatte. Die 31-jährige Zahnärztin ist vor zwei Jahren mit Mann und Kindern von Kairo nach Baden gezogen, da ihr Gatte dort eine Anstellung als Ingenieur gefunden hatte. Vor einigen Wochen wurde sie von einem Frauenverein eingeladen, an einem Podium über die schwierige Jobsituation für Frauen von ausserhalb des EU-Raums zu sprechen. Dass sie in der Schweiz nicht als Zahnärztin arbeiten darf, interessierte die Zuhörerinnen allerdings viel weniger als die Frage, die jemand unverfroren stellte: «Hat ihr Ehemann das Kopftuch befohlen?»
Das ist das eine Klischee, mit dem Ibrahim konfrontiert wird. Ein anderes bereitet ihr jedoch viel mehr Mühe: Mit jeder Gräueltat des IS und jedem fundamentalistischen Terroranschlag fühlt sie, dass die wahren Werte des Islam verletzt werden – mit der Folge, dass der Ruf einer ganzen Glaubensgemeinschaft zerstört wird. In der Ausstellung im Campus erzählt sie offen über ihre Gefühle. Jetzt hängt sie den Kopfhörer zurück.
Nahla Ibrahim, trägt die Nonne den Schleier aus den gleichen Gründen wie Sie?
Ich denke schon. Wie sie habe ich irgendwann beschlossen, mich Gott, beziehungsweise Allah, hinzugeben und meinen Willen zu bekunden, das Richtige zu tun. Das tat ich mit 22 Jahren. Meine Familie fand, ich solle mir mehr Bedenkzeit geben, weil sie weiss, dass es kein einfacher Entscheid ist, man fällt ihn fürs Leben. Aber ich war voll überzeugt. Von der ersten Sekunde an spürte ich, dass dies ein richtiger Schritt war.
Verurteilen Sie Musliminnen, die keinen Schleier tragen?
Nein. Jede gläubige Muslima weiss, dass sie einen Schleier tragen sollte, es ist eine Regel im Koran. Ich denke, dass so manche Frau auf dem Weg dorthin ist aber noch nicht genügend Kraft hat, es zu tun. Meinen Zuspruch hat sie. Aber wenn ich nach meinem Tod Allah gegenüberstehe, wird nur er mich deswegen verurteilen. Und deshalb fälle ich kein Urteil über eine andere Muslima: Es ist eine Sache nur zwischen ihr und Allah.
Die Stimmung gegenüber Muslimen ist hierzulande angespannt, nicht jeder Arbeitgeber stellt eine Frau mit Kopftuch ein. Ohne Hijab hätten Sie es vielleicht einfacher hier.
Ich habe mich auf viele Stellen beworben, aber bisher hat mich niemand auf den Schleier angesprochen. Wenn es dazu käme, würde ich lieber auf den Job verzichten, als den Hijab abzulegen, weil es dabei um etwas Grösseres geht als eine Arbeitanstellung oder um die Meinung anderer. Ich kann nicht anders.
Politiker möchten das Kopftuch am liebsten per Gesetz verbieten.
Ein Verbot wäre ein Armutszeugnis für ein liberales Land wie die Schweiz. Ich kann nicht verstehen, inwiefern ein Mädchen mit Kopftuch eine Bedrohung für die Schule sein soll. Ich würde erst für mein Recht kämpfen, sonst aber wegziehen. Dass darüber überhaupt diskutiert wird, zeigt, dass es Muslimen leider nicht gelingt, die Grundwerte des Islams zu vermitteln. Da kritisiere ich meine eigene Glaubensgemeinschaft: Wir haben keine starke Stimme. Stattdessen bestimmt eine Horde Unwissender das Bild des Islams. Das stimmt mich oft sehr verzweifelt.
Das Kopftuch wird als Symbol eines fundamentalistischen Islam verstanden.
Das ist ein wichtiger Punkt: Das Kopftuch ist nicht ein Symbol für den Islam, es ist eine Regel, die Allah auferlegt hat. Ich kann den Hijab nicht einfach in den Schrank legen, so wie eine Katholikin eine Halskette mit Kreuz ausziehen kann. Eine Halskette mit einem Koranzeichen könnte ich auch ohne Probleme ablegen.
Ihr Sohn geht in den Kindergarten. Fällt ihm auf, dass seine Mutter sich anders kleidetals andere Mütter?
Ich warte schon lange darauf, dass er mich fragt, weshalb ich den Hijab trage. Doch es ist für ihn kein Thema. Die Kleinere sagte allerdings mal, als sie eine verschleierte Frau auf der anderen Strassenseite sah: «Schau Mama, die ist wie du.» Sie nehmen mich wohl schon ein bisschen «anders» wahr. Doch ich denke, dass wenn man etwas mit Selbstverständlichkeit trägt und lebt, die Kinder das als genauso selbstverständlich akzeptieren.
Wie werden Sie es mit Ihrer Tochter halten? Muss sie einen Hijab tragen?
Ich möchte meine Kinder zu guten Menschen erziehen und stütze mich dabei auf die Grundwerte des Islams. Ob mir das hier gelingt, weiss ich nicht – übrigens würde ich mich das gleiche in Ägypten fragen. Ja, ich möchte meine Tochter motivieren, den Hijab eines Tages zu tragen und aufzuzeigen, dass die Hingabe zu Gott der Sinn des Lebens ist. Aber den Entscheid muss sie selbst treffen.
Wir gehen zum Mittagessen in die Mensa des Campus. Als Nahla Ibrahim sich Essen am Buffet schöpft, schauen einige Studenten erst sie, dann das Essen auf ihrem Teller an. Nahla begegnet den Blicken mit einem offenen Lächeln. Scheu lächelt man zurück.