«Gott wird derart radikal Mensch»

Kultur

Regisseur Milo Rau drehte mit «Das neue Evangelium» einen grossartigen Passionsfilm. Er spricht über die Aktualität der Bibel und die Kraft der Kunst, die Welt zu verändern.

Kann ein Film die Welt verändern?

Milo Rau: Wir haben diesen Film ­genau deshalb gemacht. Jeder Migrant, der mitspielt, hatte am ­Ende ­eine Niederlassungsadresse. Zudem bauten wir den Vertrieb für die fair produzierte Tomatensauce auf.

Dafür hätte es keinen Film gebraucht, Hilfswerke setzen sich doch auch für solche Dinge ein.

Die Kombination ist entscheidend. Kunst bewirkt eine bildpolitische Veränderung. Wir haben mit einem schwarzen Jesus gedreht, der auch Frauen beruft. Wer den Film gesehen hat, denkt bei Jesus nicht mehr automatisch an einen Weissen, bei den Aposteln nicht nur an Männer. Der Mensch passt seine Vorstellungen schnell an. Der nächste schwarze Präsident der USA wird keine Sen­sation mehr sein. Diese Anpassungsfähigkeit ist auch gefährlich, wenn Faschisten ständig Grenzen verschieben und wir uns erschreckend schnell daran gewöhnen.

An Jesus zeigt sich sowohl die Möglichkeit des Menschen zum Guten und Göttlichen als auch dessen Begrenztheit.

Wer ist Jesus für Sie?

Mich fasziniert, wie Gott derart radi­kal Mensch wird. An Jesus zeigt sich sowohl die Möglichkeit des Menschen zum Guten und Göttlichen als auch dessen Begrenztheit: Jesus reagiert zu mild, zu schroff, er versagt in der Menschenführung. Die Gruppe seiner Jünger zerbricht am Druck der Verfolgung. Und am Kreuz durchlebt Jesus die Gottverlassenheit, leugnet Gott beinahe.

Anders als in vielen Ihrer Theaterarbeiten bleiben Sie im Drehbuch nahe am Text. Warum?

Dramaturgie und Komplexität der Evangelien sind einfach perfekt. Wir wollten sie nicht dekonstruieren. Uns interessierte, ob sie heute noch aktuell und anwendbar sind.

Und?

Geändert hat sich wenig. Wie unter dem römischen Imperium gibt es mafiöse Strukturen und staatliche Kollaborateure, Monokulturen, Vertriebene. Das fühlt sich nach Besatzungsmacht an. Und Heilsbringer ziehen von Lager zu Lager und suchen unter den illegalen Arbeitern nach Jüngern. Yvan Sagnet, der ­Jesus spielt, ist ein solcher Aktivist.

Die Versklavung hat sich ins Seelische verlagert.

Gekreuzigt wird niemand mehr.

Klar. Die Unterdrückung ist strukturell geworden, indem Menschen kriminalisiert werden. Die Versklavung hat sich ins Seelische verlagert. Die Unterdrückten wollen nicht das System ändern, sondern nur einen anderen Platz im System. Die Sklaven wollen Herren werden.

Das war zur Zeit Jesu anders?

Die Menschen waren damals innerlich freier. Sie verstanden schneller, wenn Jesus sagte, dass in dieser Welt etwas nicht stimmt. Wir leben in einem weit fortgeschrittenen Zustand der Entwurzelung und Heimatlosigkeit. Systematische Ungerechtigkeiten erkennen wir oft gar nicht mehr. Die Fischer, die Jesus beruft, sind die Fischer von diesem See. Im Film sind es Menschen, die von irgendwoher kommen und auch nicht an dem Ort bleiben wollen, an dem sie gestrandet sind.

Die Dreharbeiten haben mein Bild von der Kirche extrem verändert.

Hat sich Ihr Blick auf das Christentum verändert, seitdem Sie sich so intensiv mit biblischen Texten auseinandergesetzt haben?

Auf das Christentum nicht, aber auf die Kirche. Mein Blick auf sie war medial bestimmt. Ich lebe in Köln, da hört man von der Kirche nur im Kontext von Finanzskandalen und Pädophilie. In Süditalien gibt es in der Flüchtlingshilfe kaum ein Projekt, das nicht von einer Kirche getragen wird. Ich habe grossartige kirchliche Aktivistinnen und Aktivisten kennengelernt. Diese Erfahrung hat mein Kirchenbild extrem verändert.

Passion und Ausbeutung

Milo Rau (44) leitet das Theater NTGent. Mit Stars, Laiendarstellern und unter prekären Bedingungen in Süditalien als Erntehelfer arbeitenden Migranten drehte er Making-of, Dokumentation und Passionsfilm zugleich. Ab April ist der Film online zu sehen und soll in die Kinos kommen.