Recherche 20. Februar 2023, von Rita Gianelli

Die Sprache ist ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis

Krankheit

Für Spitalseelsorgerin Renata Aebi ist das Kranksein eine von vielen Dimensionen des Lebens. Das Leid wahrzunehmen, statt auszugrenzen, trägt zur Heilung bei.

Echtes Inter­es­se zu zeigen, dazu braucht es keine Profis
Renata Aebi, Spitalseelsorgerin

Frau Aebi, Sie haben einen verletzten Fuss und sind momentan im Homeoffice. Was ist Ihre Definition von Krankheit?
Renata Aebi: Ich habe explizit keine Definition von Krankheit. Als Seelsorgerin ist mir die Person wichtig. Mich interessiert, was die Erkrankung für sie bedeutet, ihre Lebensgestaltung, ihre Beziehungen, ihre Spiritualität. Wenn schon, interessiert mich die Definition von Gesundheit. Religiosität und Spiritualität werden in einem erweiterten Verständnis als Dimension von Gesundheit integriert. Dieser für den Umgang mit Krankheit bedeutsamen Dimension gilt mein Interesse.
 
Haben Sie sich deshalb in Spiritual Care ausbilden lassen?
Spiritual Care ist die gemeinsame Sorge von Gesundheitsfachpersonen und Seelsorgenden um spirituell-religiöse Anliegen und Bedürfnisse von Patienten. In dieses Feld trägt die Spitalseelsorge ihre Kompetenzen ein. Durch die Wahrnehmung dieser Aufgabe trägt die Kirche zur Gesundheitsversorgung bei und übernimmt damit eine gesamtgesellschaftlich relevante Aufgabe.

Welche Rolle spielt Spitalseelsorge bei der Heilung von Kranken?
Sie beteiligt sich am Heilungsauftrag der Gesundheitsversorgung, indem sie Patientinnen und Patienten in ihrer Spiritualität und Religiosität unterstützt. Dass dies ein Bedürfnis von Patientinnen und Patienten ist, zeigen auch Umfragen. Seelsorge macht das Angebot von Gespräch und Begleitung in den sich stellenden Fragen nach dem Sinn, nach Identität, nach Verbundenheiten und per­sönlichen Werten.
 
Was kann eine Pfarrperson jemandem geben, der nicht gläubig ist?
Eine Spitalseelsorgerin oder ein Spitalseelsorger ist es sich gewohnt, mit verschiedenen Formen von Spiritualität umzugehen. Die Frage ist: Was kann einer Person Halt geben, was tröstet sie? Das muss ja nicht nur in einer explizit christlichen Sprache formuliert sein. Wenn die Seelsorgerin sich auf die Sprache des Gegenübers einlässt, entsteht Nähe. Das ist für mich ein Schlüssel: die Frage nach dem, was das Leben eigentlich trägt und inspiriert, und das Hinhören darauf, wie mein Gegenüber davon spricht.

Können Sie ein Beispiel geben?
Ein Jäger erzählte mir einmal, welche Zufriedenheit und welchen Frieden er empfindet, wenn er im Winter im Wald den Duft einer Tanne einatmet, wenn der Schnee unter den Schuhen knirscht. Solche Momente im Gespräch miteinander zu teilen, gibt Kraft.

Mit welcher Haltung begegnen Sie als Gesunde den Kranken?
Im kranken Menschen sehe ich die Person, die ich morgen schon sein könnte. Für meine Arbeit inspirieren mich die Leitsätze des Medizinethikers Giovanni Maio. Erst wenn wir uns unsere eigene Verletzlichkeit eingestehen, können wir uns auf Augenhöhe begegnen und sind herausgefordert, Verantwortung füreinander zu übernehmen. Diese Haltung sollten wir auch als Kirche leben. In den Kirchgemeinden wird diesbezüglich bereits viel gemacht: in freiwilligen Besuchsdiensten und nicht zuletzt mit dem Gedenktag der Kranken.

Oft überfordert uns der Umgang mit todkranken Menschen.
Ich denke, es ist wichtig, dass diese Menschen das Gefühl haben, wahrgenommen zu werden. Echtes Interesse, als Person und nicht als Todkranke wahrgenommen zu werden, ist heilsam. Dazu braucht es keine Profis. Das hat mit geteilter Menschlichkeit zu tun.

Woran krankt unsere Gesellschaft?  
Unsere gesellschaftlichen Leitwerte – wie Selbstständigkeit, Auto­nomie, Gesundheit, Jugendlichkeit, Leistungsorientierung – können vor allem für kranke, ältere oder vulnerable Menschen ausgrenzend sein. Ebenso unsere Tendenz zum Individualismus. Daher hat das Motto zum Tag der Kranken «Gemeinsam unterwegs» hohe Aktualität.

Renata Aebi, 56

Die reformierte Theologin und Spitalseelsorgerin mit Zusatzausbildung in Spezialseelsorge und Spiritual Care engagiert sich seit Jahren für die Profilierung der Seelsorge im Gesundheitswesen. Sie arbeitet am Kan­tonsspital in Chur mit Schwerpunkt Palliativstation und Onkologie. Am Tag der Kranken, am 5. März, findet im Kantonsspital ein spezieller Gottesdienst statt. Die Patienten erhalten vom Seelsorgeteam eine Grusskarte. Der «Tag der Kranken» ist ein Verein, der 1939 gegründet wurde.