Die Wahlsiegerinnen Cinque Stelle und Lega Nord stürzten Italien noch vor Regierungsantritt in eine institutionelle Krise, als sie sich mit dem Staatspräsidenten anlegten. Wie ist die Stimmung im Land?
Paolo Naso: Die politische Situation hat sich mit der rechtsgerichteten Regierungskoalition von Lega und Fünf-Sterne-Bewegung dramatisch verändert. Die von Innenminister Matteo Salvini dominierte Regierung will die Grenzen schliessen und Migranten abschieben, um die Sicherheit der Italiener zu garantieren. Die Politik bedient sich eines Vokabulars, als führten wir Krieg.
Ähnlich wie dies derzeit in Ungarn oder Österreich passiert.
Italien hängt aber wegen der Migration über das Mittelmeer stärker von der internationalen Kooperation ab. Ich fürchte, Italien wird sich innerhalb von Europa weiter isolieren – was nicht nur den Migranten und Asylanten im Land schadet, sondern auch uns Italienern.
Die Regierung sagt, die illegale Migration sei das grösste Übel.
Ein Paradox. Die Anzahl der in Italien ankommenden Asylsuchenden ist so tief wie noch nie in den letzten Jahren. In den letzten zwölf Monaten ist der Zustrom um 75 Prozent gesunken. Politiker aber sprechen von einer Flüchtlingskrise. Eine Krise, die wir gar nicht haben. Sie tun dies, um von den eigentlichen sozialen, wirtschaftlichen und politischen Problemen abzulenken.
Und doch wurden sie gewählt.
Weil eine riesige Propagandamaschine am Werk ist, in der auch die Medien mitspielen. Zudem werfen Politiker langjährige, gut integrierte Migranten und neu ankommende Asylsuchende in einen Topf. In Italien leben rund fünf Millionen sogenannte historische Migranten. Sie finanzieren unsere Altersversorgung und ihre Kinder gehen mit unseren Kindern in die Schule.
Welche Rolle spielen die Kirchen?
Sie sind eine der wenigen verbleibenden Stimmen, welche die Wahrheit sagen können. Wir müssen den Menschen bewusst machen, dass der Diskurs der Politik nicht der Realität entspricht. Wir können der Angst in der Bevölkerung und dem Hass gegenüber Fremden und Asylsuchenden entgegentreten.
Tun das evangelische und katholische Kirchen mit einer Stimme?
Ja. 2015 lancierten sie die ökumenische Initiative «Humanitäre Korridore», die dank des Vertrauens der damaligen Regierung eingeführt wurde. Sie ist die erste Zusammenarbeit von Protestanten und Katholiken in ganz Europa in diesem Bereich. Später folgten Frankreich und Belgien. Die Initiative ermöglichte in den letzten zwei Jahren 1200 im Libanon lebenden syrischen Flüchtlingen die legale und sichere Einreise nach Italien.
Der italienische evangelische Kirchenbund engagiert sich auch bei der Seenotrettung im Mittelmeer.
Seit Kurzem arbeiten wir mit der spanischen Organisation «Proactiva Open Arms» zusammen, die in den letzten Jahren auf dem Mittelmeer rund 60 000 Personen aus Seenot gerettet hat. Doch die Arbeit ist gefährdet, weil verschiedene Länder, darunter auch Italien, den Einsatz kritisieren und verhindern. Das hat nicht nur zur Folge, dass mehr Menschen auf hoher See sterben, es gibt auch weniger Augenzeugen, die berichten können, was auf dem Meer passiert.