Eine Selbstverständlichkeit ist ihre Emanzipation erst seit 1866, als die Schweizer Juden den übrigen Bürgerinnen und Bürgern gleichgestellt wurden. Für Herbert Winter, Präsident des Schweizerischen Israelitischen Gemeindebundes (SIG), ist unbestritten, «dass die hier geborenen, ebenso wie die zugewanderten Jüdinnen und Juden ihren Platz in der Schweizer Gesellschaft gefunden haben: Wir sind allesamt Schweizerinnen und Schweizer auf Augenhöhe mit allen Bürgerinnen und Bürgern dieses Landes und haben gleichzeitig unsere jüdischen Traditionen und Eigenheiten bewahrt.»
Grosse Vielfalt. Auf die Vielfalt der Juden und des Judentums in der Schweiz weist eine Wanderausstellung hin, die im Dezember auch im Kanton Aargau Station macht. Alexander Jaquemet hat junge und alte Menschen, religiöse und säkulare, bekannte oder unbekannte Schweizer Jüdinnen und Juden in ihrem Umfeld fotografiert. Die fünfzehn feinfühlig Porträtierten erzählen von ihren Träumen und Sehnsüchten, vor allem aber von ihrem Verhältnis zur Heimat. Überfliegen lassen sich die Textbeiträge nicht – dafür sind sie zu substanziell und zu ehrlich. Um nur einige Beispiele zu erwähnen: Die Mutter der 28-jährigen Genferin Talia Wigger ist Israelin; eine Sabra, deren Eltern aus dem Yemen stammten; der Vater ist Deutschschweizer, Christ, und ein direkter Nachfahre von Bruder Klaus in der sechzehnten Generation. «In meiner Familie», so Talia Wigger, «sind die Wärme, die Farben und der Wohlgeschmack des Orients täglich spürbar. Aber der Anstand lehrt uns, unser Judentum vor allem für uns selbst zu leben – und voller Stolz Schweizer zu sein, was wir auch nicht verheimlichen.»
Als «nicht religiös, sondern vielmehr von der jüdischen Geschichte und Kultur geprägt», bezeichnet alt Bundesrätin Ruth Dreifuss ihre Beziehung zum Judentum. Als die heute 76-Jährige 1993 zur Bundesrätin gewählt wird, ist das für sie ein Beweis, «dass die Frage der Religionszugehörigkeit schon damals nicht mehr die gleiche Rolle spielte wie noch ein paar Jahre zuvor». Heute seien es andere Gruppierungen als die Juden, die am meisten Ausgrenzung und Diskriminierungen erführen: «Namentlich für Muslime kann die Emanzipation der Juden vor 150 Jahren Sinnbild und auch Vorbild sein.» Der 52-jährige Agronom und Ökonom Ariel Wyler ist vom Rang her «der höchste observante Jude der Schweizer Armee». Für Wyler ist der Sabbat heilig: «Wenn die Sonne am Freitagabend untergeht, verrichte ich – bis am Samstag die ersten drei Sterne am Nachthimmel erscheinen – keine Arbeit mehr. Dass ich trotzdem Offizier werden konnte, habe ich meinem damaligen Waffenchef zu verdanken.» Für Wyler steht fest: «In der Armee sind wir Juden zu 100 Prozent gleichberechtigt.»
Sensorium für Minderheiten. Jean-Paul René Lob – Partysänger, Talkmaster, Erotikstar – ist als polarisierende Kultfigur J. P. Love bekannt. «Ob Transgender oder Homosexuelle – vielleicht hat es gerade mit meinen jüdischen Wurzeln zu tun, dass ich mich für Minderheiten einsetze. 150 Jahre Emanzipation – Gleichberechtigung braucht es nicht nur für Juden.» Jules Bloch ist 69 Jahre alt und entstammt einer Viehhändler-Familie. Er lebt in Endingen, wo sich die Juden früher als im Rest der Schweiz niederlassen durften. Blochs Vorfahren haben alle Surbtaler Jiddisch gesprochen, mit speziellen Ausdrücken für den Viehhandel. Antisemitismus? Nein, den hat Jules Bloch «nie erlebt».
Jedidjah Bollag, 35, ist Vorstandsmitglied in der SVP-Kreispartei; dort sei er von Beginn weg positiv aufgenommen worden. Aber: Rechts zu politisieren, sei für viele Juden nach wie vor ein Tabu, vor allem für die ältere Generation. Für sie, die mit dem Holocaust aufgewachsen sind, sei rechte Politik noch immer anrüchig. Sie wählten deshalb links oder Mitteparteien. «Ich und so manche andere junge jüdische Schweizerinnen und Schweizer sehen das viel unverkrampfter. Ich sage es so: Erst wenn es selbstverständlich ist, dass man als Jude stolz auf seine Heimat Schweiz sein kann und die Traditionen dieses Landes wahren möchte, kann man sagen: Wir sind nach 150 Jahren gleichberechtigt und voll und ganz angekommen.»
Ausstellung. Bis 14. 12.: Historisches Museum Baden; ab 18. 12.: Synagoge Lengnau