Hat die Kirche während der Krise das Richtige getan?

Streitgespräch

Die beiden Pfarrer sind sich nicht einig: Andreas Gygli ist enttäuscht von der Kirche als Institution, sie habe im Lockdown versagt. Keineswegs, findet Andreas Nufer.

Andreas Gygli, im Mai sind Sie aus der reformierten Kirche ausge­treten. Sind Sie unzufrieden mit der Reaktion der Kirche auf die Bundesratsentscheide im Lockdown?

Andreas Gygli: Ich bin nicht nur unzufrieden mit der Kirche, ich bin tief enttäuscht. Mein Vorwurf geht in erster Linie an die Leitungsverantwortlichen der Landeskirchen, nicht an die Mitarbeitenden in den Gemeinden. Spätestens nach zwei Wochen im Lockdown hatte ich einen Einspruch seitens der Kirchenleitung erwartet. Gottesdienste wären zu jeder Zeit möglich gewesen. Alle Lebensmittelgeschäfte waren imstande, innerhalb weniger Tage Schutzkonzepte zu entwickeln. Das hätte die Kirche problemlos auch gekonnt. Es hätte dafür eine Kirchenleitung gebraucht, die aufgestanden wäre und gesagt hätte: Lieber Bundesrat, das Ganze Halt! Wir als Kirche sind noch anderem als der leiblichen Gesundheit verpflichtet. Wir kümmern uns um die Gesunderhaltung der Seelen. Stattdessen liessen wir uns untersagen, alte und kranke Menschen zu besuchen und mit Sterbenden zu beten.

Andreas Nufer, wie haben Sie den Corona-Lockdown erlebt?

Andreas Nufer: Als schwierige Zeit. Auch wir in der Offenen Kirche Bern und in der Kirchgemeinde Heiliggeist mussten alle Veranstaltungen absagen, haben aber zeitgleich Alternativen aufgebaut, sodass der Betrieb weiterlaufen konnte. Wir blieben, wie andere Kirchen in Bern auch, immer offen für Besucher, die sehr dankbar waren dafür. Wir haben zum Beispiel an Ostern spe­zielle Feiern durchgeführt oder vor Pfingsten allen 919 Senioren unserer Gemeinde persönlich eine Taube aus Zopfteig vorbeigebracht. Alles mit Schutzkonzept natürlich, aber die Resonanz war enorm. Auch andere Gemeinden boten physische, telefonische und digitale Nähe trotz Distanz an. Die Kirche hat es grundsätzlich gut gemacht, notabene in einer Situation, die alle überrascht und gefordert hatte.

Andreas Gygli: Ich bestreite nicht, dass die Herausforderung auch für die Kirche sehr gross war. Aber wie alt Bundesrat Moritz Leuenberger in einem Interview sagte: «Nicht alles, was in Bern verordnet wurde, entspricht der Würde des Menschen (…) Da hätte die Kirche vielleicht lauter das Wort gegen den behördlichen Bannstrahl erheben müssen.» Wir haben uns zu viel von dem, was zum Kerngeschäft der Kirche gehört, faktisch verbieten lassen. Wir waren zu unterwürfig.

Finden Sie das auch?

Andreas Nufer: Nein, es gab keinen «Bannstrahl» und die Kirchenverantwortlichen haben mit dem BAG und dem Bundesrat mögliche Szenarien besprochen. Auch wir mussten uns dafür einsetzen, dass die Heiliggeistkirche offen bleibt, das war nicht von Anfang an klar. Und die kirchliche Basis hat auch den Osterappell unterstützt, Geflüchtete aus Griechenland trotz der Krise aufzunehmen. Wir brauchen eine starke Kirche, die ihre Meinung vertritt, da bin ich völlig einverstanden. Es gibt sie, und sie wird von der Politik auch gehört.

Wir brauchen eine starke Kirche, die ihre Meinung vertritt, da bin ich völlig einverstanden.

Sie fanden die Massnahmen des Bundesrats unverhältnismässig?

Andreas Gygli: Ja, insofern, als die Reaktion auf die Bedrohung, die ich nicht leugne, mehr Leid gebracht hat als die Bedrohung selbst. Ich kenne betagte, alleinstehende Menschen, die während des Lockdowns noch einsamer wurden. Das englische Wort Social Distancing gibt die Wirklichkeit genauer wider als der Begriff Abstandsregeln. In Tat und Wahrheit gehen wir auf Distanz zueinander. Die Entfremdung in der Gesellschaft ist aus meiner Sicht deutlich grösser geworden. Und die Kirche hat sich daran mitschuldig gemacht. Sie ist ebenfalls auf soziale und körperliche Distanz zu ihren Mitgliedern gegangen.

Andreas Nufer: Natürlich gibt es berechtigte Kritik, aber in den letzten Monaten habe ich auch Solidarität erlebt – nicht nur in der Heiliggeistkirche – wie kaum je zuvor. Die Erfahrung, dass das Leben fragil und letztlich nicht kontrollierbar ist, hat viele sensibilisiert für die Not anderer. Was wäre denn die Alternative gewesen zum bundesrätlichen Szenario? Dass man mehr Kranke und Tote in Kauf nimmt, nur um das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben nicht zu gefährden. Das wäre doch zynisch.
Andreas Gygli: Zynisch finde ich es, wenn Leute, welche die Meinungen des Mainstream bezüglich Corona-
Massnahmen nicht teilen, diffamiert werden. Im Rahmen einer demokra-
tischen Meinungsbildung müssen alle Stimmen zu Wort kommen, auch diejenigen, die das Ausmass der Massnahmen gegen das Virus hinterfragen. Dass sich die Kirchen nicht entschlossener für die freie Meinungsäusserung einsetzen, enttäuscht mich ebenfalls.

Können Sie das nachvollziehen?

Andreas Nufer: Ja, in gewisser Weise schon. Nur ist jetzt nicht die Zeit für die grosse Schelte gegen Bundesrat, Kantone oder Kirchen. Mit Ihrem Austritt machen Sie nicht nur die Institution ärmer, sondern ebenso sich selber. Die Kirche ist nur dann stark und lebendig, wenn viele sich in der Gemeinde engagieren und schauen, dass wir gut durch die Krise kommen. Es braucht Leute wie Sie!

Andreas Gygli: Ich verstehe meinen Kirchenaustritt als Zeichen des Protestes. Ich bleibe Christ und stehe fest verankert in der jüdisch-christlichen Tradition. Der Kirche, ihren Mitgliedern und Amtsträgern bleibe ich weiterhin menschlich verbunden. Interessanterweise wird meiner persönlichen Analyse des momen­tanen Zustands der Gesellschaft seit meinem Kirchenaustritt mehr Beachtung geschenkt. Ich habe den Dialog gesucht und gefunden.

Andreas Gygli, 66

Der pensionierte Pfarrer war zuerst Chemielaborant und engagiert sich bis heute als Gewerkschafter bei der Unia. Als Pfarrer amtete er in Bibe­rist SO, Valendas-Versam GR und ­Elsau ZH. Er wirkte mit beim Bündner Lehrplan für den Religionsunterricht. Seit 50 Jahren spielt er als Gitarrist und Sänger in Bands in den Sparten Blues und Bluegrass.

Andreas Nufer, 56

Der Pfarrer gestaltet seit 2012 das Programm der «offenen Kirche» Heiliggeist in Bern mit. Zuvor amtete er im brasilianischen Amazonien und in der ökumenischen Gemeinde Halden in St. Gallen. Ökumene und Befreiungstheologie sind für ihn prägend. Im Zentrum seiner Tätigkeit stehen die Jugendarbeit, interreligiöse Kontakte und die Flüchtlingsarbeit.