Recherche 29. Mai 2020, von Käthi Koenig

Wenn im Spital Spiritualität zum Thema wird

Ethik

Glaube und Rituale im medizinischen Kontext» – so lautet der Titel eines neuen Sachbuchs, das mit Berichten von Betroffenen zum Verstehen ethischer Konflikte beiträgt.

Ein Kreuzchen, ein Davidstern und die Hand der Fatima als Anhänger, ein Rosenkranz, ein Stethoskop, ­eine Injektionsspritze – solche und ähnliche Gegenstände veranschaulichen bereits auf dem Titelbild das Thema: «Glaube und Rituale im medizinischen Kontext». Nicht allein diese kleinen Dinge, auch die Bilder im Inneren des Buches zeigen, dass grosse Fragen hier ganz konkret angegangen werden. Der Fotograf Niklaus Spoerri hat die Menschen, die hier zu Wort kommen, in eindrücklichen Bildern porträtiert. So ist das Interesse beim Durchblättern sofort geweckt: Wer sind sie, was erleben sie, wie denken sie? Sie – die lachende junge Frau mit ihrem kleinen Töchterchen? Sie – die weissgekleidete Ärztin im Spitalflur? Oder sie, die Muslimin in einem Kreuzgang?

Betroffene und Fachleute

Komplexe ethische Fragen durch Beispiele von betroffenen Menschen veranschaulichen und die dadurch entstandenen Belastungen, aber auch mögliche Lösungen aufzeigen, das ist das Anliegen der Ethikerin Susanne Brauer, Herausgeberin des Werks. Sie hat mit Betroffenen und Fachleuten Gespräche geführt. Anouk Holthuizen, freie Journalistin und Redaktorin bei «reformiert.», hat die Aufzeichnungen zu gut lesbaren Texten verarbeitet. Zusammen mit den Bildern gewähren sie einen Einblick in die Herausforderungen, vor denen Kranke und Behandelnde immer wieder stehen, insbesondere in den Spitälern, in Momenten, in denen religiöse und kulturelle Unterschiede eindeutige Vorschriften und scheinbar einfache Lösungen oft infrage stellen.

Da ist zum Beispiel das Ehepaar, das sich sehnlichst ein Kind gewünscht hat und nun erfahren muss, dass ihr Neugeborenes ohne ständige medizinisch-technische Unterstützung nicht lebensfähig ist. Die Eltern müssen sich entscheiden: Sollen die eingeleiteten Massnahmen zur Lebenserhaltung aufgegeben werden? Unterstützt von Ärztinnen, Pflegenden, Angehörigen und Freunden, gehen sie diesen schwierigen Weg und finden dabei Trost und Kraft in selbst gestalteten und in Gemeinschaft erlebten Ritualen. Eine der Bezugspersonen für die Eltern war in diesem Prozess Eva Bergsträsser, eine Pionierin der pädriatischen Palliative Care. Sie stellt das eine Beispiel in einen allgemeinen Zusammenhang, sie erwähnt die Schuldgefühle, von denen Eltern in solchen Situationen gequält werden, und sie betont: «Rituale können helfen beim Einordnen ­eines Schicksals.»

Gewissenskonflikte

scheidungen beeinflussen und teilweise sogar die Risiken vergrössen, zeigt ein anderes Beispiel: Angehörige der Gemeinschaft Zeugen Jehovas lehnen aus Glaubensgründen Bluttransfusionen ab. Was das bedeutet, davon erzählt eine junge Hebamme und Zeugin Jehovas. Sie kam selber in diesen Gewissenskonflikt, als ihre Tochter kurz nach der Geburt operiert werden musste.

Wie schwierig solche Situationen auch für die behandelnden Ärzte sind, davon berichtet eine Anästhesistin, die bei entsprechenden Operationen im Clinch ist zwischen der Pflicht, unbedingt Leben zu retten, und dem Respekt vor dem Glauben des Patienten. Die muslimische Seelsorgerin Dilek Ucak-Ekinci vermittelt in der Zürcher Frauenklinik zwischen der «Kultur» des Spitals und den Bedürfnissen muslimischer Patientinnen, eine Aufgabe, die oft auch von christlichen Seelsorgenden übernommen wird. Der Psychiater Kojo Koranteng kennt sich bestens aus in der schweizerischen Schulmedizin und den traditionellen Heilmethoden in seinem Herkunftsland Ghana. Dadurch lässt er auch Spiritualität in seiner Praxis zu. Diese und weitere Persönlichkeiten tragen mit ihren Kompetenzen und ihren persönlichen Erfahrungen bei zum Verständnis der komplexen Beziehungen zwischen Medizin und religiösen und kulturellen Einflüssen, die uns in Krankheitssituationen immer wieder verunsichern.

Susanne Brauer (Hg.): Glaube und Rituale im medizinischen Kontext. TVZ, Juni 2020, 128 Seiten, Fr. 24.–