Recherche 17. Dezember 2023, von Christian Kaiser

«Wenn du mein Leben nimmst, ist der Tod süss wie Zucker.»

Poesie

750 Jahre nach seinem Tod gehört Rumi zu den meistgelesenen Dichtern weltweit. Seine Anhängerschaft feiert den 17. Dezember als «Hochzeitsnacht» der Vereinigung mit Gott.

Als Rumi im Dezember 1273 krank darniederlag, soll die Erde in Konya heftig gebebt haben. Rumi versuchte, die Besucher an seinem Krankenbett zu beruhigen und scherzte, die Erde sei nur etwas hungrig. Bald werde sie sich mit ihm einen fetten Leckerbissen einverleiben. Der Tod hatte nichts Bedrohliches für Rumi, er sah ihn vielmehr als Befreiung der Seele aus dem Gefängnis des Körpers. «Weint nicht um mich, ich gehe nicht weg, ich komme in der ewigen Liebe an», schrieb er. «Vergesst nicht. ein Grab ist nur ein Vorhang für das Paradies dahinter.»

Einst hatte er die Frage aufgeworfen, weshalb man sich an dieses Leben festklammern solle und geantwortet: «Die Sonne stirbt Tag für Tag und verschwendet jeden Moment Hunderte von Leben». Und so habe Gott dieses Leben für jeden von uns bestimmt, und «er wird ein neues geben und noch eins und noch eins». In dieses Dasein kam Dschalal ad-Din Muhammad Rumi 1207 in der Provinz Balch. Das Gebiet gehörte im 13. Jahrhundert zum Perserreich und liegt heute in Afghanistan. Seine Familie flüchtete wahrscheinlich vor den vorrückenden Mongolen in die heutige Türkei nach Konya, wo Rumis Vater Bahauddin Walad Recht und Religion lehrte.

Vom Religionslehrer zum Mystiker

Rumi studierte bei ihm, und 1230 übernahm er nach dem Tod des Vaters dessen Lehrstuhl. 1244 lernt er auf einem Basar den persischen Mystiker und Wanderderwisch Schams al-Tabrizi (Schams von Täbris) kennen, und diese Begegnung verwandelt sein Leben komplett. Schams bedeutet auf Persisch «die Sonne». Und das wird Schams sinnbildlich auch für Rumi: ein Fixstern, der Rumis Geist erleuchtet und vor allem auch sein Herz lichtet und weitet.

Aber als Schams Konya verlässt, hinterlässt er in Rumis Brust eine klaffende Wunde. Rumi sucht seine am Horizont untergegangene Sonne überall, findet sie wieder, verliert sie erneut und endgültig. Der unbändigen Sehnsucht nach dem geliebten Gefährten spürt der Dichter fortan ein Leben lang nach. «Blüht in dir Sehnsucht, sei gewiss: dein Wesen ist die Sehnsucht. Zum Geliebten erwählt, wurdest du selbst zur Sehnsucht.»

Der Durst wird auch gestillt

Um die Sehnsucht kreisend sind während drei Jahrzehnten 3000 Liebesgedichte entstanden, die in seinem Werk «Diwan-e Schams» überliefert sind. Getreu seiner Erkenntnis «du bist, was du suchst», war Rumi längst zu einem Liebessucher geworden, der seinem Sehnen mit immer neuen Metaphern Ausdruck verleiht. «Die Rose welk, der Garten dürr: Woher kommt da noch Rosenduft? Vom Rosenwasser». «Der Durstige stöhnt: O köstliches Wasser! Auch das Wasser stöhnt und sagt: Wo ist der Wassertrinker? Der Durst in unseren Seelen ist die Anziehung, die das Wasser ausübt: Wir gehören dem Wasser, und doch ist es unser.» Und schliesslich ist der Durst auch der Beweis dafür, dass das Wasser existiert: «Deine trockenen Lippen legen Zeugnis dafür ab, dass sie schliesslich die Quelle erreichen werden.»

Ja, das Leben selbst ist bei Rumi ein Lied der Sehnsucht, gespielt auf einer von Sufi-Musikern noch heute gern genutzten Schilfrohrflöte. Die aus einem Rohrstock geschnittene Flöte singt ein Klagelied über die Trennung – darüber, dass sie wieder mit ihrem Ursprung verbunden sein möchte: «Jeder, der weit von seinem Ursprung entfernt ist, sehnt sich danach, wieder mit ihm vereint zu sein.» Mit solchen sehnsüchtigen Klängen der Rohrflöte beginnt sein Hauptwerk, das Masnavi. Es umfasst sechs Bände mit insgesamt 26000 Versen. Sie haben spirituelle Weisungen zum Inhalt oder sind Lehrgeschichten für ein reines Leben.

Wenn das Du und das Ich verschmelzen

Das Du in seinen Texten bezieht sich nie nur auf den Geliebten Schams allein, sondern immer auch auf das Göttliche. Denn im Kern kreist Rumis Dichtung beständig um den Wunsch nach der Wiedervereinigung mit dem grossen Geliebten: Gott. Die Menschen, denen wir begegnen, sind nur Ausdruck von Gottes allumfassender Liebe. Und dorthin kehren wir am Ende heim. Die Welt und die Menschen sind bei Rumi sogar aus der göttlichen Sehnsucht heraus entstanden, die Sehnsucht nach Verbindung steht am Anfang von allem: «Allein ist der Mensch nichts. Wenn wir alle zusammenkommen, werden wir erst zu einem Menschen», schreibt Rumi. Er belässt es nicht bei der Erkenntnis, sondern schickt die Aufforderung hinterher: «Los, lass uns zusammenfinden, um Mensch zu werden!»

Zum wahren, von Gott erdachten Menschen werden wir dort, wo «Ich» und «Du» miteinander verschmelzen:

Weder bin ich ich,
Noch bist du du,
Noch bist du ich.
Auch ich bin ich,
Du bist du,
Und du bist ich.
In einer Weise bin ich mit dir verbunden,
O Geliebter,
Dass ich verwirrt bin,
Ob ich du bin,
Oder du ich bist. 

Poet und Pol der Liebe

Im Laufe seines Lebens war Rumi also vom Rechtsgelehrten und Theologen zum Poeten, Tänzer und Musiker geworden. Er wird mit vielen Namen bedacht: «Poet» oder «Prophet» oder «Pol» der Liebe. Oder auch Maulana, was «mein Meister» bedeutet. Längst ist Rumi eine Lichtfigur für alle islamischen Mystiker; der Sufi-Orden der Mevlevi, bekannt für seine kreistanzenden Derwische, beruft sich explizit auf ihn und seine Unterweisungen. Sein Schweizer Ableger unterstreicht auf seiner Webseite die offensichtlichen Parallelen zum dreifachen Liebesgebot im Christentum: Gottliebe, Nächstenliebe, Selbstliebe. Liebe sei nichts anderes als die Sehnsucht nach Einheit mit einem geliebten Gegenüber.

«Liebe ist ein Vektor der Sehnsucht nach Einheit», schreiben die Mevlevis. Das gelte für Jesus und Rumi gleichermassen. In Rumis Werk kommt Jesus an verschiedenen Stellen vor. In der islamischen Frömmigkeit steht er für Heimatlosigkeit und Armut, die Überwindung des Materiellen, Körperlichen, die Geburt des Geistigen. «Der Leib ist wie Maria. Jeder von uns hat einen Jesus, aber ehe sich in uns kein Schmerz zeigt, wird unser Jesus nicht geboren», heisst es in der unter dem Titel «Von Allem und vom Einen» erschienenen Sammlung von aufgezeichneten Gesprächen Rumis mit Schülern und Freunden. Der Schmerz ermöglicht die Geburt Jesu in der Seele - das ist ein durchaus zu Weihnachten passender Gedanke, von einem islamischen Mystiker.

Der Tod als Hochzeit mit Gott

Rumi starb am 17. Dezember 1273, vor exakt 750 Jahren. Sein Todestag wird als «Shab-i Arûz» bezeichnet, das bedeutet «Hochzeitsnacht». Rumi war überzeugt davon, dass er durch den Tod auf ewig vereint ist mit der Liebe Gottes: «Wenn Du mein Leben nimmst ist der Tod süß wie Zucker», hatte er gedichtet und «Wie eine Blume im Frühjahr zu einem neuen Leben erwacht, kehrt der Mensch durch seine Auferstehung zu seinem Ursprung, zu Gott, zurück.»

Seine Anhängerschaft, allen voran die tanzenden Derwische des Mevlevi-Ordens, feiern seinen Tod mit Drehtänzen (Sama), Gottesanrufungen und der Rezitation seiner Gedichte. Nicht nur im türkischen Konya bei seiner Grabstätte, die ein wichtiger Pilgerort ist, sondern auf der ganzen Welt. Seine zeitlosen Aufrufe hallen nach, ja sie kommen als Backrezepte für die Ewigkeit daher:

«Wo immer du bist und in welchem Zustand du dich befindest, trachte danach, ein Liebender, ein leidenschaftlich Liebender zu sein. Und wenn die Liebe dein Gut geworden ist, bleibst du immer ein Liebender, im Grab, im Paradies, immer und ewiglich. Wenn du Weizen gesät hast, wird gewiss Weizen wachsen, in der Scheuer wird Weizen sein, im Backofen wird Weizen sein.»

Neu Bücher zu Rumi

Ahmad Milad Karimi (Hg.): Rumi – mit Flügeln geboren. Patmos, 2023, 235 Seiten
Rashin Kheiriyeh: Rumi – Dichter der Liebe. Kinderbilderbuch. NordSüd, 2023, 40 Seiten
Die Edition Shershir von Peter Finkh übersetzt Rumis Werk neu: www.shershir.ch