Recherche 22. Dezember 2022, von Constanze Broelemann

Eine «Oase des Friedens» öffnet ihre Pforten für alle

Ökumene

In Poschiavo steht ein altes Kloster. Die Schwesternschaft ist umgezogen. Heute bietet das renovierte Vecchio Monastero Raum für Musse und Einkehr.

Dunkle Wolken hängen in den Bergkuppen. Regen prasselt auf das Kopfsteinpflaster. An den Strassenrändern stehen dicht gedrängt einfache Häuser mit niedrigen Türen und alte elegante Palazzi. Nahe dem Dorfzentrum, kurz vor der Piazza von Poschiavo, steht ein ockergelbes Gebäude. Hohe Mauern verstellen den Blick in sein Inneres. Auffallend ist die dunkelgrüne Tür. Über ihr ist ein Kreuz in den Stein eingelassen. Ein Wappen prangt an der Hauswand, darunter steht geschrieben: «Monastero S.M.P. Centro per la Spiritualità, l’E-cumenismo e la Cultura».

Ein Grenzort

Schwester Rita biegt in die schmale Gasse neben dem Kloster ein. Sie sitzt auf einem blauen Damenfahrrad – trotz Regen. Mit ihrem Habit und dem Lächeln auf den Lippen wirkt sie wie aus einer Fernsehserie. Die Augustinerin gehört zu den elf Schwestern, die heute noch Teil der örtlichen Klostergemeinschaft sind.

Klostergründung war 1629

Seit dem 17. Jahrhundert steht das Vecchio Monastero di Santa Maria Presentata in Poschiavo, an der Grenze zu Italien. Dazumal legte der katholische Pfarrer Paolo Beccaria seinem Bischof in Como den Entschluss vor, an dieser Stelle eine Kommunität junger Frauen zu gründen. Im Jahr 1629 nahm die Gemeinschaft offiziell die Augustinerregel an und stellte sich unter den Titel «Santa Maria Presentata».

Fotoshooting

Schwester Rita schliesst die grüne Eingangstür zum Vecchio Monastero auf. Die kleine Frau stemmt sich gegen das alte Holz und gibt so den Blick in den Innenhof frei. Die Anlage ist quadratisch gestaltet mit einem Kreuzgang. Hortensien und tönerne Vasen geben dem Ort ein mediterranes Flair trotz der kalten Jahreszeit. Schwester Rita läuft auf die Christusfigur zu, die an der Stirnwand des Kreuzgangs hängt. «Ich bin nicht fotogen», ruft sie, als der Fotograf sie ablichten will, und nestelt an ihrem Rosenkranz. «So, genug!», sagt sie, bewegt sich vom Christus weg und schliesst die Tür zum Wohntrakt des Klosters auf.

Ökumenisches Zentrum

Nicht nur die Zahl von einst fünfzig auf heute elf Augustinerinnen hat sich verändert – auch das Vecchio Monastero selbst dient inzwischen anderen Zwecken. War es einst Lebensort der Schwestern, so steht es heute jedem offen. Als «Zentrum für Ökumene und Spiritualität» und als «Oase des Friedens» nimmt es bereitwillig erschöpfte Geister, kreative Köpfe und vielfältig Glaubende auf. Die renovierten Klosterzellen lassen das einst entbehrungsreiche Leben der Schwestern immer noch erahnen. «Meine Vorgängerinnen hatten ein hartes Leben», sagt Schwester Rita und weist auf die drei Waschbecken von 1682 hin, sie dienten zum Händewaschen vor den Mahlzeiten.

Kontakt zur Aussenwelt

Im Besuchsraum stehen Tische und Stühle. In der Ecke findet sich ein Ofen: «Ein Original – hier in Poschiavo gefertigt», betont Schwester Rita. Der Raum diente den Augustinerinnen als Empfangszimmer. Er war beheizt, und hier konnten sie Kontakt zur Aussenwelt pflegen, Verwandte empfangen.
Mit einer Öffnung gen aussen versuchen heute viele Ordensgemeinschaften, ihre Räumlichkeiten und ihre Tradition in die Zukunft zu retten. Der Wunsch nach Einfachheit lockt Menschen aus ihrem überfüllten Alltag in die alten Klöster. Im Erdgeschoss des Vecchio Monastero schliesst Schwester Rita die Tür auf. Über und über ist der Raum mit dem Holz der Alpenkiefer getäfelt. Hier können Besuchende Yogalektionen besuchen oder Sitzungen durchführen.

Eine Kapelle für viele

Dann geht es die Treppen hoch zum Dachboden hinauf. Dort befindet sich ein kleines Museum, das einen Eindruck vom früheren Klosterleben vermittelt. Eine Art antikes Waffeleisen zum Prägen von Oblaten ist ausgestellt und historische medizinische Geräte, die wenig vertrauensvoll wirken. Im Chor der Kapelle hängen auch orthodoxe Ikonen an der Wand. «Die haben wir im Zeichen der Ökumene neu malen lassen», sagt die Nonne. Der Altar, wo die Eucharistie gefeiert wird, befindet sich nicht mehr im Zentrum der Kirche, sondern auf der rechten Seite. Dies war nur mit Erlaubnis des Bischofs möglich. Links steht das Lesepult, wo das Wort Gottes verkündet wird. Eine Kapelle ausgestattet für die Bedürfnisse von Reformierten, Katholiken und Orthodoxen.

Ein Leben im Dienst anderer

Die 73-jährige Schwester Rita hat ihr ganzes Leben in den Dienst anderer Menschen gestellt. Sie war lange als Krankenschwester tätig. «Manchmal hatte ich von abends bis morgens früh Nachtwache im Spital und bin dann noch in den Gottesdienst gegangen.» Sie arbeitete zeitlebens im Spital San Sisto in Poschiavo, das von den Augustinerinnen, wie ein Altersheim und eine Schule, gegründet worden war. Mit 16 Jahren machte die Aargauerin eine Lehre als Lebensmittelverkäuferin, besuchte die Bäuerinnenschule im Kloster Fahr und absolvierte die Krankenschwesterausbildung in Zürich. Danach trat sie ins Kloster in Poschiavo ein. Nie habe sie diesen Entscheid bereut. «Früher war ich auch mal im Ausgang, beim Tanz und habe Männer kennengelernt. Aber keiner konnte mir das geben, was ich gesucht habe», sagt sie. «Schlechte Tage gibt es in jedem Leben, aber ein Weg, der einem nicht liegt, ist doppelt schwer», sagt Schwester Rita, während das Handy klingelt. «Ja, Sie können hier gern wohnen. Nein, im Klostergarten gibt es derzeit nichts mitzuhelfen», beantwortet Schwester Rita die Fragen eines Anrufers.

Mailänder Flair

Es gibt viel zu tun, sei es mit der Pflege einer älteren Mitschwester oder mit der Zimmervermittlung. Denn auch im neuen Kloster Santa Maria, bloss zehn Minuten vom alten entfernt, sind Besucher willkommen. Seit 1971 wohnt die Schwesternschaft dort. Erbaut hat es der Mailänder Architekt Luigi Caccia Dominioni. In der Kapelle von 1970 pflegen die Schwestern in täglichen Gebeten ihre Beziehung zu Gott. «Diese Blumen müssen weg, sie verstellen den Blick auf den Altar», sagt Schwester Rita und räumt eine Zimmerpflanze beiseite. Ins Blickfeld rückt ein Mosaik aus goldenen Steinen auf dunklem Grund. Es ergiesst sich wie ein Wasserfall aus dem Tabernakel über den Altar auf den Boden und hinaus durch die Kapellentür bis in den Flur: «Das sind die warmen, fliessenden Strahlen der Gnade Gottes», sagt sie, «sie führen mich täglich zum Gebet.»

www.vecchio-monastero.ch/it