Recherche 03. Juni 2021, von Rita Gianelli

Geheimnisse zu lüften, ist ihr Beruf

Restauration

Eigentlich wollte sie Autolackiererin werden. Heute studiert Giuliana Cloetta aus Lenzerheide Restauration und Konservierung. Sie erzählt, wie sie zu ihrem Traumberuf kam.

«Für mich ist das alles Kunst», sagt Giuliana Cloetta und formt mit dem Arm einen Halbkreis in der Luft. Damit meint sie die Malereien in- und ausserhalb der reformierten Kirche in Bergün. Sie betrachtet die Gestalt des Kirchen-Schutzpatrons, des heiligen Christopherus mit Stab und Jesuskind auf den Schultern, an der Aussenfassade und erkennt das Werk professioneller Restaurierung. «Hier, die blanken Stellen: Wo nichts mehr vorzufinden ist, belässt es der Restaurator bei der Fehlstelle und versucht, sie so gut wie möglich ins Gesamtwerk zu integrieren», erklärt sie.

Schlüsselerlebnis in Chur
Giuliana Cloetta geht an der geschlossenen Kirchentür vorbei und steigt die Seitentreppe hoch. Sie weiss, dass dieser Eingang stets offen ist. Obwohl sie in Lenzerheide aufwuchs, ist sie mit Bergün stark verbunden. Hier verbrachte sie oft ihre Schulferien bei der Tatta und dem Tat, hier wurde sie getauft. Und hier ruht ihr verstorbener Vater.

Sie betritt die Empore, von wo aus die Details der prächtigen Deckenmalerei auf der geschnitzten Holzdecke gut sichtbar sind. «Diese Farbmischungen sind uralt», sagt sie, «schau, wie sie leuchten!» Eigentlich wollte Giuliana Cloetta nach der Sekundarschule eine Lehre als Autolackiererin beginnen. «Farben liebte ich schon immer», sagt die meist schwarz gekleidete Punk-Hardcore-Musikliebhaberin. Doch eine Lehrstelle als Malerin war damals einfacher zu bekommen. Bereut habe sie es nie. Sie sei viel im Kanton rumgekommen. Ihr Lehrmeister arbeitete oft mit Restaurationsbetrieben zusammen. So lernte sie neue Arbeitsfelder kennen.

Ein Schlüsselerlebnis war das Praktikum bei Matthias Mutter, wo sie mithalf bei der Restauration der Villa Köhl in Chur, eines prächtigen Jugendstilgebäudes, erbaut 1905. Der damalige Besitzer hatte ebenfalls Bergüner Wurzeln. Karl Köhl, langjähriger Organist der St. Martinskirche in Chur, lebte die ersten sieben Jahre in Odessa, wohin seine Eltern als Zuckerbäcker von Bergün ausgewandert waren, bevor sie nach Chur zurückkehrten.

Nun wollten die neuen Villen-Besitzer den ursprünglichen Glanz wie­derherstellen. «Die Arbeit mit den Restauratoren und den Kunsthistorikern oder der Denkmalpflege unterscheidet sich komplett von der alltäglichen Malerarbeit», erzählt Clo­etta. Dabei geht es nicht um flächendeckendes Überstreichen mit dem Roller. Gefragt ist das Analysieren der vorhandenen Materie, das Mischen spezieller Farbpigmente nach alter Tradition und die Dokumentation all dieser Arbeitsschritte. Aber vor allem gefiel ihr, dass man sich beim Restaurieren Zeit nehmen muss.

Tagelanges Abstauben
Giuliana Cloettas Arbeitsplatz ist im Winter das Atelier, im Sommer die Baustelle. Manchmal heisst das auch: tagelang rücklings unter einem Deckengemälde liegen und mit dem Pinsel Staub entfernen. «Die Reinigung mit dem Pinsel mach ich immer sehr genau, sie ist sehr wichtig für das Ergebnis der Restauration des Gegenstandes.» Neu gemalt werde nur auf Wunsch der Auftraggeber oder wenn Originalabbildungen vorhanden sind.Die Erfahrungen, die Giuliana Cloetta während ihrer Lehr- und Arbeitsjahre sammelte, verstärkten ihren Wunsch, mehr über das Handwerk der Restauration zu erfahren. «Für mich ist es eine Möglichkeit, Geheimnisse freizulegen, einzutauchen in eine andere Welt.» Wie in den Fantasy-Romanen, die sie in der Freizeit gerne liest.

Geheimnisse vermutet sie auch in Osteuropa, wo sie einmal arbeiten möchte. Sobald sie ihren Mercedes-Sprinter dazu hergerichtet hat, mit Solaranlage und Schlafnische. «Auch das ist momentan eine Baustelle», sagt sie und lacht.

Studium nach der Lehre

Giuliana Cloetta, 28, absolvierte nach der Sekundarschule eine Malerlehre bei Robert Mettier in Thusis. Bevor sie die Gestalterische Berufsmaturität ablegte, arbeitete sie drei Jahre als Ma­lerin, wo sie erste Restaurierungen an historischen Gebäuden, der Kirche in Fürstenau und einem alten Bau­ernhaus in Stuls, tätigte. Vier Jahre arbeitete sie im Betrieb des Restau­rators Matthias Mutter, Malans, und war an der Restauration der Seitenaltäre der Klosterkirche Disentis beteiligt. 2020 begann sie an der Hochschule der Künste in Bern mit dem Studium Konservierung/Restaurierung. Sie hat zwei Geschwister und lebt in einer Wohngemeinschaft in Bern.