Gewalt im Alltag und fehlende Empathie

Psychologie

Der Nahostkonflikt lässt sich nicht einfach erklären. Eine grosse Rolle spielen aber Gefühle. Sie hätten das Potenzial für positive Veränderungen, findet der Forscher Oliver Fink.

Mitte Mai kam der Nahostkonflikt einmal mehr zum Ausbruch. Militante Palästinenser beschossen Israel mit Raketen, Israel schoss zurück. Die Gewalt entlud sich, weil palästinensische Familien in Ostjerusalem hätten enteignet werden sollen. Inzwischen gilt eigentlich Waffenruhe, aber bis Redaktionsschluss kam es zu neuen Vorfällen.
Die jüngsten Ereignisse zeigen ein­mal mehr, wie fragil die Lage in der Region schon seit Generatio­nen ist.

Welche Gefühle führen zu welcher Art von politischem Handeln?
Oliver Fink, Sozialpsychologe

Warum erzeugt Gewalt hier immer heftigere Gegengewalt? Der Politikwissenschaftler und Sozialpsychologe Oliver Fink von der Uni­versität Basel liefert Erkenntnisse, die die herkömmlichen Erklärungsansätze neu beleuchten.

Ohnmacht im Alltag
Fink forscht zu Gruppenemotionen und ihrem Einfluss auf politisches Handeln. «Mich interessiert: Welche Gefühle führen zu welcher Art von politischem Handeln?», erklärt er. Der Nahostkonflikt eigne sich für dieses Forschungsfeld besonders. Deshalb lebte und arbeitete er während dreier Jahre in einer israelischen Ortschaft an der Grenze zum Westjordanland.

Menschen, die sich radikalisieren, sind oft von politischer Gewalt geprägt.
Oliver Fink, Sozialpsychologe

In seiner Forschung kam er zum Schluss, dass Menschen, die sich radikalisieren, oft von politischer Gewalt geprägt sind. Für eine Mutter in Palästina gehöre es etwa «zur Realität, dass sie sich überlegen muss, wie sie ihre Kinder auf eine eventuelle Hausdurchsuchung vorbereitet». Die durch Checkpoints eingeschränkte Bewegungsfreiheit trage auch zum Ohnmachtsgefühl der palästinensischen Bevölkerung bei.
Auf der israelischen Seite spiele dagegen die Angst vor dem Verlust Angehöriger etwa durch den Militärdienst eine wichtige Rolle. Oliver Fink spricht von einer «In­fra­struktur des Konflikts», die sich aus verschiedenen Komponenten wie Zo­nen, Militär, Checkpoints und unterschiedlichen Rechtslagen zusammensetze. Das führe zwangsläufig zu einer gereizten Grundstim­mung. So brauche es nicht viel, um Eskalationen in Gang zu setzen.

Längst nicht alle trauen dem Waffenstillstand.
Joachim Lenz, Propst in Jerusalem

Eigentümliche Atmosphäre
Den Zorn und die Unruhen in Jerusalem im Zusammenhang mit dem jüngsten Konflikt hat Joachim Lenz hautnah miterlebt. Er ist seit August 2020 Propst der Erlöserkirche in Jerusalem und der erste evange­lische Pfarrer in dieser Funktion. Während der Unruhen war er buchstäblich mittendrin: «Die Propstei liegt exakt am Schnittpunkt von jüdischem, christlichem und muslimischem Viertel.» So bekam er die Ausschreitungen am rund 500 Meter entfernten Damaskustor unmittelbar mit. Selbst nach der Ent­span­nung der Lage nahm er noch immer eine «eigentümliche Atmosphäre» wahr: «Längst nicht alle trauen dem Waffenstillstand.» Durchaus zu Recht, wie sich in den folgenden Tagen schnell zeigen sollte.

Viele Israe­lis reduzieren den palästinensischen Freiheits­kampf auf Terrorakte.
Joachim Lenz, Propst in Jerusalem

Propst Lenz erlebt seine Situation zwischen den Fronten nicht immer als einfach. Er tue sich schwer damit, dass die Leute nicht mit­ei­nander redeten: «Dass auch israelische Städte beschossen werden, neh­men viele in Palästina gar nicht wahr, umgekehrt reduzieren viele Israe­lis den palästinensischen Freiheits­kampf auf Terrorakte.»
Dass Kontakte zwischen den beiden Gruppen fehlen, sagt auch Fink: «Der israelischen Zivilbevölkerung ist es verboten, in die palästinensischen Kerngebiete zu reisen.»

Ein breites Bündnis

Am 2. Juni verkündeten der Mittepoli­tiker Jair Lapid (Jesch Atid) und der national-religiöse Naftali Bennett (Jamina) ihre neue Regierungskoa­lition. Das Bündnis umfasst acht Partei­en, darunter Linke, Mitteparteien, religiöse und säkulare Nationalisten so­wie die Vereinigte Arabische Liste. Das Bündnis eint der Wille, eine weitere Amtszeit Netanjahus zu verhindern. Joachim Lenz, Propst der Erlöserkirche in Jerusalem, sieht in dieser neu gebildeten, wenn auch noch wack­ligen Regierungskoalition etwas Visionäres. Und auch ein Zeichen der Hoffnung. «Nur schon die Idee, so etwas zu versuchen, finde ich atemberaubend», sagt Lenz.

Palästinenser erleben Israelis meist als Soldaten oder Arbeitgeber bei Aushilfsjobs. Empathie könne so beidseits nicht entstehen. «Es braucht Be­gegnungsräume, wo man sich auf Augenhöhe gegenübersteht.» Empathie lasse sich nicht erzwingen, doch stecke grosses Potenzial in ihr. Positive Erfahrungen beeinflussten Emotionen relativ schnell. «Mit ihrer Hilfe lassen sich Veränderungen besser erzielen als über politische oder religiöse Einstellungen», ist Fink überzeugt.