Recherche 24. Juni 2022, von Noemi Somalvico

Die «Schärme-Brügg» erinnert an humanitäre Pflichten

Kunst

Eine blaue Brücke mitten auf dem Berner Bahnhofplatz führt direkt in die Heiliggeistkirche. Sie soll aufrütteln und zum Nachdenken anregen über die Schicksale der Flüchtenden.

Wer aus einem unsicheren Land nach Europa fliehen muss, hat Hindernisse zu überwinden. Braucht zahlreiche Brücken und Hilfsangebote. Braucht einen sicheren Weg, um an den «Schärmen» zu kommen.

Zum internationalen Flüchtlingstag vom 20. Juni hat der Künstler Christian Grogg für den Berner Bahnhofsplatz eine Brücke gestaltet, die «Schärme-Brügg». Hellblau gestrichen, als wolle sie in die Farbe des Himmels übergehen, führt sie direkt durch ein Seitenfenster in die Heiliggeistkirche.

Flatternde Stoffstreifen zum Gedenken

Es ist ein heisser Junitag. Ein älteres Ehepaar aus Bern steigt die Holztreppe hoch. Sie hätten davon gelesen, heute Morgen im «Bund». Hätten aber nicht begriffen, dass diese Brücke tatsächlich auch begehbar sei. Von dort aus sehen sie die unzähligen weissen Stoffstreifen, die an der Kirchenmauer befestigt im kaum merkbaren Wind flattern. Ein Gedenken an die Menschen, die auf der Flucht nach Europa gestorben sind.

Mindestens 48´647 Tote sind es seit 1993 gemäss dem europäischen Netzwerk «United for intercultural action». Die tragischen Ereignisse, die zu ihrem Tod geführt haben, wurden von freiwilligen Helferinnen und Helfern auf die Stoffstreifen geschrieben. Isabelle Schreier hat als Projektleiterin der Offenen Kirche Bern mitgeschrieben. Indem man sich den Einzelschicksalen zuwende, gewinne das Thema eine neue Dimension, sagt sie. Niemand setze sich einfach so in ein unsicheres Boot und lasse seine Heimat hinter sich.

Missstände nicht ignorieren

Für die Offene Kirche Bern als Initiantin des Werkes ist die Brücke ist ein Aufruf zu sicheren Fluchtwegen. Isabelle Schreier sagt: «Von der einzelnen Person bis zu den grossen politischen Gremien braucht es eine gute Zusammenarbeit, um den fortwährenden Missstand zu verbessern. Dazu gehören auch die Wirtschaft und die Gesellschaft.» Darüber hinaus stehe das Projekt auch für den Dialog zwischen verschiedenen Kulturen, Gesinnungen, Generationen, aber auch für den Anschluss an die Gesellschaft für stark von Einsamkeit oder Ausgrenzung betroffene Menschen.

Doch warum führt die Brücke durchs Kirchenfenster? «Ein Kirchengebäude kann Schutz bieten», sagt Schreier, «und es ist wichtig, dass die Kirche sich der Menschen annimmt, die verletzlich sind.»  Aber einen sicheren Raum biete nicht nur das Innere einer Kirche.

Der Aufbau der Brücke im Video

Die Brücke weckt Interesse

Draussen pressieren Menschen über den Bahnhofsplatz und unter der Brücke durch. Andere haben es nicht so eilig. Was das für eine Installation sei, will eine Stadtführerin wissen, ihre Tour führe nämlich genau hier durch. Eine  Helferin gibt Auskunft: «D Schärmebrügg isch das.»

Auch auf Französisch und Englisch ist die Brücke angeschrieben: Pont-abri. Shelter Bridge. Nicht aber auf Arabisch, Farsi, Ukrainisch, Urdu.

Rund um den Brückenpfeiler stehen stumm und nah beieinander lebensgrosse Holzfiguren des Künstlers Peter Leisinger. Wartende. Ein Kind, das die Hand einer Frau hält, ein Mensch, der sich an einen anderen lehnt, tiefe Blicke aus Holz. Ein älterer Mann mit Sportrucksack macht vor ihnen Halt, er sagt: «Himmeltraurig.» Dann beginnt er zu wettern. Die Zeitungen, die Medien sollen endlich Feuer entzünden, bei denen, die noch schlafen.

Der Sägekünstler Peter Leisinger

«Entwurzelt und ausgeliefert», heisst sein neustes Grossprojekt: Peter Leisinger, bekannt für seine Skulpturen am Bahnhof Malans, hat mit der Motorsäge Dutzende lebensgrosse Holzfiguren geschaffen. Sie stehen, sitzen, warten. Sie sind auf der Flucht. Jede der Figuren ist ein Charakter für sich, ein Porträt aus Holz, mit der Motorsäge gesägt und mit Autolack koloriert. Der Pfarrer des Grossmünsters Zürich, Christoph Sigrist, sagt im Gespräch, das Holzschnittartige von Leisingers Kunst sei genau richtig, um auf die Essenz hinzuweisen: die Pflicht zur Flüchtlingshilfe.

Hier geht es zum Porträt von Peter Leisinger.

Ein Feuer entzünden, in den Dialog treten. Vielleicht wäre eine Brücke direkt ins Bundeshaus eine Möglichkeit auf andere, etwas ungewohnte Weise ins Gespräch zu kommen, bemerkt Isabelle Schreier und holt in der Kirche noch ein paar Schnüre, um die verbleibenden Stoffstreifen zu montieren.

Am späteren Nachmittag, es ist noch immer sehr heiss, legt sich ein Mensch in den Schatten der Brücke. Er schläft dort, eine Bierdose in der Hand.