4.20 Uhr Winterzeit vor dem Fraumünster in Zürich. Annelis Bächtold trifft ein. Sie ist zu Fuss von ihrer Wohnung in Zürich-Wiedikon gekommen, um sich auf das Treffen einzustimmen. «Ich habe Amseln singen gehört, aber keinen einzigen Menschen getroffen», erzählt sie. Die 71-Jährige hat für die vorösterliche Matinee ebenso spontan zugesagt wie Michael Wiesmann. Er ist mit dem Auto von Uetikon am See angereist, wo er als Jugendpfarrer arbeitet. «Gestern Abend habe ich mich verwünscht fürs Mitmachen, aber jetzt bin ich erstaunlich wach», so der 36-Jährige schmunzelnd.
Handy und Taschenlampe. Bächtold und Wiesmann, die sich nicht kennen, betreten das Fraumünster. Drinnen ist es fast stockdunkel. Am Lichtpult schalten sie eine dezente Beleuchtung ein, die Sigrist Theo Zobrist programmiert hat. Die berühmten Chagall-Fenster im Chor sind nichts als dunkle Flächen, kein Hauch von Farbe ist sichtbar.
In der zunächst dunklen und dann heller werdenden Kirche sollen sich die beiden über Karfreitag und Ostern austauschen, dazu lud «reformiert.» sie ein. Die ungewohnte Umgebung ist bewusst gewählt: In der christlichen Tradition wird Jesu Tod und Auferstehung oft als Weg von der Dunkelheit ins Licht beschrieben. Als Einstieg setzten sich die beiden Frühaufsteher auf Stühle im Chor und lesen in der Bibel die Ostergeschichte nach Matthäus: Wiesmann am Handy, Bächtold mit der Taschenlampe in einer alten Bibel. Sie lesen abwechselnd vor, wie Jesus von Judas verraten und wie er verurteilt wird, wie er ans Kreuz genagelt stirbt. Wie Frauen an sein Grab kommen, es leer vorfinden und ein Engel erklärt, Jesus sei auferstanden, bevor er sich den Jüngern selbst zeigt (Matthäus 27 und 28).
«War das Grab von Jesus wirklich leer oder lag der Leichnam doch drin?», fragt Bächtold. Damit startet die Theologin, die bis zur Pensionierung das Zürcher Migrationskirchenzentrum geleitet hat, eine theologische Debatte. In ihrer Studienzeit sei heftig darüber diskutiert worden, ob Jesus historisch tatsächlich auferstanden sei – damals populäre Forschungsrichtungen zweifelten das an.
Sie selber habe ihre Meinung, ob das Grab Jesu leer oder voll gewesen sei, im Laufe des Lebens mehrmals geändert. Heute sei sie überzeugt, dass die Osterbotschaft unabhängig von historischen Fakten wahr sei. «Das Leben ist stärker als der Tod. Mit der Auferstehung entsteht etwas ganz Neues, eine andere Sphäre.»
Wiesmann hört aufmerksam zu, bekundet aber Mühe mit dem «Sezieren» der Auferstehung. Er ortet die Gefahr, «dass sich die historisch-kritische Forschung über das göttliche Geschehen erhebt». Man spürt die Diskussionslust des Pfarrers mit Ohrringen und Tattoos, der im kantonalen reformierten Kirchenparlament für die evangelisch-kirchliche Fraktion politisiert. Er sagt: «Die katholische Tradition ist hier im Vorteil. Wenn sie die Auferstehung als Mysterium beschreibt, wird damit deutlich, dass unser Hinterfragen auch an Grenzen stösst.» «Das finde ich nicht», kontert Bächtold. Sie fühle sich in der christlichen Mystik beheimatet und sei überzeugt: «Die historisch-kritische Forschung schmälert das göttliche Geschehen nicht, sondern ist im Gegenteil nötig.»
Grab und Lebenskraft. Einig sind sich die beiden in einem: Die Osterbotschaft ist mit Worten nicht endgültig zu fassen. Um sie zu veranschaulichen, lässt der Jugendpfarrer seine Konfirmandinnen und Konfirmanden jeweils Mungosamen in ein Grab aus Gips pflanzen. Nach einigen Tagen vermag die Pflanze den harten Gips zu sprengen. Er hoffe, dass die Jugendlichen dieses Bild mitnehmen und damit die Gewissheit: «Der Tod hat nicht das letzte Wort.» Ostern zeige, dass jeder auf Gottes Gnade vertrauen dürfe, so der Seelsorger. «Denn Gott neigt sich hinunter zu uns, indem er in Jesus selbst Mensch wird. Und in der Auferstehung hebt er uns zu sich empor.»
Annelis Bächtold findet es ganz wichtig, dass zu Ostern auch Karfreitag dazu gehöre. Schliesslich sei Jesus selbst am Kreuz verzweifelt gewesen und habe sich sogar von Gott verlassen gefühlt. «Momente der Verzweiflung und Ratlosigkeit sind Teil des Lebens, es ist nicht alles nur schön und gut», betont die Theologin. Davon höre sie oft in Gesprächen. Seit sie selbst eine schwere Krankheit überlebt habe, denke sie viel an den Tod. «Ich bin sicher, dass es danach weitergeht und bin sehr ‹gwundrig›, wie.» Lebensmüde wirkt die quirlige Frau allerdings gar nicht. Natürlich wolle sie ihre Enkel, die sie regelmässig hüte, sehr gerne gross werden sehen. «Aber ich bin einfach gespannt, ob ich nach dem Tod die Geheimnisse Gottes besser verstehen werde.»
Grün und Unvollständig. Die beiden Gesprächspartner sehen kein bisschen müde aus, obwohl Bächtold nachts zuvor überhaupt nicht schlafen konnte und Wiesmann auch schon ab drei Uhr wach lag. Die beiden wickeln die mitgebrachten Wolldecken enger um sich – die Temperatur in der Kirche beträgt nur gerade 14 Grad. Irgendwann zwischen 6 und 6.30 Uhr wird es fast schlagartig hell. Der fünfteilige Fensterzyklus von Marc Chagall leuchtet in Rot, Blau, Grün und Gelb. Annelis Bächtold und Michael Wiesmann betrachten das zentrale, grüne Christusfenster. Es zeigt Weihnachten und Karfreitag – nicht aber Ostern. «Das Ostergeschehen ist nicht darstellbar», interpretiert sie. Er fügt an: «Oder das Fenster will uns sagen: Jetzt müsst ihr selber Worte finden für das Mysterium der Auferstehung. Und die biblischen Geschichten davon weitererzählen.»
Doch nun ist es erst einmal Zeit für Kaffee. Annelies Bächtold und Michael Wiesmann blendet das Tageslicht und sie müssen für einen Moment die Augen schliessen, als sie um 7 Uhr aus der Kirche treten und sich verabschieden. Statt Amselgesang hört man Trams quietschen und Absätze geschäftig übers Trottoir klappern.