Protest gegen Maurers Güterabwägung

Ethik

Mehr als 1000 Corona-Tote in zwei Wochen: Kirchenleute rufen in Erinnerung, dass sich die Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen misst.

Pfarrer Michael Wiesmann ist erschüttert. In nur 14 Tagen sind über 1000 Menschen mit oder an Corona gestorben. «Im Verhältnis sind das fünf Mal mehr als in Deutschland», erklärt er. Der Pfarrer aus Furttal erinnert in dieser Situation an einen zentralen Satz der christlichen Ethik: «Der Wert des Lebens ist aus christlicher Sicht unverhandelbar.» 

Am Samstag, 21. November, vernahm dann der Pfarrer die Worte von Bundesrat Ueli Maurer in der SRF-Samstagsrundschau. Der Politiker stellte Menschenleben einer funktionierenden Wirtschaft gegenüber. Wörtlich sagte der Bundesrat: «Wir sind bewusst dieses Risiko eingegangen, weil wir eine Güterabwägung gemacht haben.» 

Ein Video geht viral

Vor allem diesen Satz des Finanzministers kritisiert Wiesmann. Es gebe keine vernünftige Einheit, um Menschenleben und wirtschaftliches Wohlergehen zu vergleichen. In den sozialen Medien veröffentlichte er ein Video: «Wenn einer monetär berechnen kann, was ein Menschenleben wert ist, dem zahle ich ein Bier.» Zudem sei die von Maurer formulierte Abwägung ein klarer Verstoss gegen die Verfassung. «Darin ist klar festgeschrieben, dass sich die Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen misst.» 

Sein Beitrag ging viral und hat Wiesmann ermutigt, einen Aufruf unter Kirchenleuten zu lancieren. «Von offizieller kirchlicher Seite fehlt eine Intervention zum Skandal des hohen Corona-Sterberisikos in der Schweiz.» Als Erstunterzeichnende konnte Wiesmann neun Personen gewinnen. Darunter die Pfarrerinnen und Pfarrer Ella de Groot, Simon Gebs, Catherine McMillan oder Sibylle Forrer. Die Erklärung hat Wiesmann gemeinsam mit den beiden Theologen Martin Peier sowie Jan Bergauer verfasst.

Viele ältere Menschen wollen am sozialen Leben teilhaben, sie gehen bewusst Risiken ein.
Michel Müller, Kirchenratspräsident

Der Kirchenratspräsident Michel Müller verneint, dass die Kirche es nicht wagt, den Staat zu kritisieren. Im Moment sei es für alle schwierig, das staatliche Handeln in der Coro- na-Krise vertieft aufzuarbeiten, sagt Müller. «Pauschale Vorwürfe bringen da nichts.» Aber man müsse «genau hinschauen und aus Fehlern lernen». Statistiken zu den Corona- Toten seien Momentaufnahmen. «Leider weiss man erst später, welcher Weg der bessere gewesen ist.»

Trügerische Zahlen

Müller erinnert daran, dass die Politik in der Pandemie nicht ausschliesslich auf kollektive Sicherheit ausgerichtet sein könne. Viele ältere Menschen wollten sich am sozialen Leben weiter beteiligen. «Das Risiko, dabei tödlich zu erkranken, nehmen sie bewusst in Kauf.» 

Thomas Wallimann vom «Institut ethik22» bestätigt: «Viele ältere Menschen sagen: Wir leben unser Leben.» Zudem genügten in einem kleinen Land wie der Schweiz «wenige Tote, um statistisch die Zahlen nach oben schnellen zu lassen». Der Sozialethiker hält aber fest: Die Position, die Wirtschaft sei wichtiger als Menschenleben, «ist ethisch unhaltbar».